Auszug aus der Ansprache zum Frühjahrsempfang der Caritas für Köln am 31.03.2017 im Domforum:
“Heimat ist da, wo es mir gut geht, ich mich angenommen, aufgenommen und verstanden fühle, wo meine Familie und Freunde sind, überall da kann Heimat sein. Es gibt zumeist auch mehrere Heimaten: Eine Kindheitsheimat, eine politische Heimat, eine musikalische Heimat, eine kulturelle Heimat … und und und. Und: Heimat ist nie etwas Statisches. Heimat lebt, sie atmet, sie entwickelt sich – so wie wir uns entwickeln.
Die Jahreskampagne der deutschen Caritas hat das Motto „Zusammen sind wir Heimat“. Sie zeigt mit ihren Motiven Situationen, in denen Heimat entsteht. Die Botschaft ist einfach wie herausfordernd: Wie können wir im Kleinen wie im Großen einander Heimat geben? Wie kann Köln eine Stadt sein und bleiben, in der alle Menschen gut miteinander leben können?
Es geht um alle: Neu Hinzugekommene wie Alteingesessene, Alte wie Junge, Kranke wie Gesunde, Behinderte wie Wohnungslose, Arbeitslose wie Niedrigqualifizierte, Arme wie Reiche, Christen und Muslime, Schwul-Lesbische und Heteros. Das Miteinander gut zu gestalten und Integration und Inklusion für alle zu ermöglichen, ist eine gesellschaftliche Herausforderung und für den Zusammenhalt unseres Gemeinwesens und damit für die Gesellschaft von zentraler Relevanz.
Vom migrationspolitischen Standpunkt aus hat die deutsche Gesellschaft eine lange Erfahrung, Menschen eine Heimat zu geben: als Arbeitsmigranten während des deutschen Kaiserreichs, als Vertriebene, Umsiedler oder Kriegsrückkehrer nach 1945, als südosteuropäische Arbeitsmigranten oder Flüchtlinge aus der DDR in den 1960er Jahre, als Asylbewerber aus Osteuropa, Asien und Afrika (Boat People), als Kontingentflüchtlinge oder Spätaussiedler seit den 1970er Jahre.
Die zum Teil tiefgreifenden Bevölkerungsumwälzungen machen unsere Stadt bunter, interessanter und kosmopolitischer. Sie bringen zugleich eine Fülle an Herausforderungen mit sich und lassen eine Anerkennungskultur wachsen, auf die wir stolz sein können. Diese geht aber vielen Betroffenen, was die rechtliche Anerkennung und gesellschaftliche Akzeptanz, vor allem die Chancengerechtigkeit anbetrifft, noch nicht weit genug.
Die Herausforderung, allen hier lebenden Menschen eine gute Heimat zu ermöglichen, ist nicht zu unterschätzen. Während sich viele dafür einsetzen, dass Köln eine einladende, offene und gute Stadt für alle Menschen ist, wecken die Herausforderungen bei anderen den Wunsch, Identität zu bestimmen und in einem exkludierenden Sinn Heimat zu reklamieren. Sie vollziehen eine strikte Trennung zwischen „wir“ und „ihr“. Sie fürchten, was sie nicht kennen. Sie sehen das Trennende, die Hautfarbe, die Sprache, die Religion, die politische Ansichten. Sie sehen nicht, was miteinander geteilt wird: Die Leidenschaft zu Musik, die Begeisterung für Sport, die Freude an Büchern, der Genuss, mit Freunden zusammen zu sein, die Sorge um Familienangehörige, die Erfahrung von Verlust und Tod, die Hoffnung auf Sicherheit, Frieden und ein wenig Wohlstand.
Unsere Gesellschaft hat sich über die Themen Asyl und Migration zerstritten. Die Diskussionen werden von einigen hochemotional geführt, unzugänglich für jede Form von Fakten und Argumenten. Selbst im privaten Umfeld wird es schwierig, diese Themen mit der notwendigen und gebotenen Sachlichkeit zu diskutieren. Unsere Gesellschaft hat zugelassen, dass wir zunehmend mit Populismus und politischem Extremismus zu kämpfen haben. Aber, unsere Geschichte zeigt uns, dass wir es schaffen können. Es in der Vergangenheit mehr als einmal schon geschafft haben, denjenigen, die Heimat suchen, Heimat zu geben und diese mit ihnen zu teilen.
Ja, die Vielfalt an Kulturen, Religionen und Nationen in unserer Gesellschaft hat zugenommen. Aber nicht erst seit den Ereignissen auf dem Budapester Bahnhof im September 2015. Ja, eine offene Gesellschaft mit unterschiedlichen Kulturen, Religionen und Nationen kann verunsichern, darf es auch. Sie kann aber auch anregen und Zukunft sein. Ja, Vielfalt stellt Anforderungen an das Zusammenleben. Es braucht Heimathirsche, die sich offen zeigen, und Einwanderer, die sich in die neue Heimat einfinden und die Grundlagen des Lebens akzeptieren, ohne das Eigene ganz aufgeben zu müssen.
Ein inklusives, interkulturelles und interreligiöses Zusammenleben zu gestalten, heißt die Akzeptanz gemeinsamer Regeln und die Verständigung auf gemeinsame demokratische Werte wie Grundrechte der Meinungsfreiheit, Religionsfreiheit oder Gleichberechtigung von Mann und Frau. Sie sind Voraussetzungen und Eckpfeiler für eine offene und plurale Gesellschaft und nicht verhandelbar.
Die zunehmende Sorge von Teilen der Bevölkerung, nicht ausreichend im Blick zu sein bzw. der Sozialstaat werde seinen Aufgaben nicht gerecht oder bevorzuge nur eine Personengruppe, muss ernst genommen werden. Verlust- und Abstiegsängste haben längst auch die Mittelschicht erfasst, die lange als das Rückgrat unserer Gesellschaft galt und ihr einen aufrechten und stabilen Stand verlieh.
Sozialstaat und Sozialpolitik müssen alle Menschen im Blick halten und den äußeren Rahmen setzen, damit alle Menschen in unserer Gesellschaft Heimat finden. Heimat gestalten, daran trägt jeder von uns Anteil. Gelingt uns das, sagt das viel über die innerliche Verfassung und Gestaltungskraft von Gesellschaft, Stadt und Land aus.
Kirche und caritative Verbände leisten von eh her wichtige gesellschaftliche und sozialpolitische Integrations- und Inklusionsarbeit. Gemeinsam Heimat gestalten, geschieht auf vielerlei Arten und in unterschiedlichen Formen: Durch Bildung und Befähigung, durch bürgerschaftliches Engagement, im Sozialraum, in der Vermittlung freiheitlich-demokratischer Grundwerte, durch gesellschaftliche Teilhabe sowie in Einrichtungen und Diensten.
Gemeinsam können und müssen wir uns dafür einsetzen, dass Köln eine Heimat für alle Menschen ist. Unsere Reaktion auf Populismus muss ein eindeutiges Bekenntnis zu unserer kulturellen Vielfalt sein. Wir dürfen zu Fremdenhass, Gewalt, Verleumdung und Hetze nicht schweigen.
Das Zusammenleben zu gestalten, setzt Offenheit für Vielfältigkeit und Toleranz für Unterschiedlichkeit voraus. Wir brauchen keine Zäune und Mauern. Wir brauchen Erfahrungsräume und Begegnung und die Bereitschaft für eine offene Stadtgesellschaft, sich auf alle Menschen einzulassen.
Wir brauchen eine klare Verständigung und Akzeptanz gemeinsamer freiheitlich-demokratischer Grundwerte. Das erfordert ein offenes und an demokratischen Werten orientiertes Erziehungsklima zur Entwicklung eines positiven Selbstwertgefühls und zur Anerkennung des Wertes anderer Menschen durch Stärkung der Familien und wertschätzende Angebote in Kitas, Schule und Jugendverbandsarbeit.
Um durch Befähigung und Bildung Heimat zu finden, brauchen wir ausreichenden und unkomplizierten Zugang zu Kitas und Schulen. Um Heimat im Sozialraum zu erfahren, brauchen wir bezahlbaren und barrierearmen Wohnraum und eine Förderung der sozialen Durchmischung im Sinne einer quartiersbezogenen integrierten Stadtentwicklung.
Heimat heißt gesellschaftliche Teilhabe. Daher braucht es passgenaue, mehrjährige Förderinstrumente für arbeitsmarktferne Personen zur Integration auf dem Arbeitsmarkt.
Heimat in Einrichtungen und Diensten bedingt eine prioritäre und konsequente Verankerung des Themas interkulturelle Öffnung und Kultursensibilität in allen Bereichen von Stadt, Verbänden, Wirtschaft sowie Schaffung von beruflichen Perspektiven, Praktika-, Ausbildungs- und Arbeitsplätze für Jugendliche, all dies losgelöst vom Merkmal Migrationshintergrund.
All das sind Ansätze, die in der Hand der Kölner Politik und Stadtgesellschaft liegen. Einen Punkt möchte ich zum Schluss mit Blick auf unsere neuen Nachbarn besonders herausstellen und weil er in diesen Zeiten wesentlich für die Frage unseres Zusammenlebens ist. Er richtet sich über unsere kommunalen Grenzen an den Bund und die Länder.
Migrations- und Flüchtlingspolitik oder allgemeine Wanderungspolitik ist keine ausschließliche Frage der Ordnungs- oder Sicherheitspolitik. Sie ist Gesellschaftspolitik und hat zu nahezu allen Politikressorts Bezüge. Dem aus der Politik der Bundeskanzlerin folgenden Primat der Humanität und der daraus erwachsenden Willkommenskultur stehen Streit um Grenzkontrollen und Obergrenzen, Proteste aus Bundesländern, Drohgebärden aus Bayern sowie eine rigide Asylpraxis und einschränkende Asylgesetzgebung gegenüber.
Abschottung ist kein Ersatz für Migrationspolitik und keine Option, wenn es um die Gestaltung der Zukunft, der Sicherung von sozialem Frieden und kultureller Toleranz geht. Es braucht eine umfassende, auf klare Rechtsgrundlagen gestützte Politik für Migration, Integration von Minderheiten und gesellschaftliche Inklusion aller sozialen Gruppen, die idealerweise aus einer offenen Generaldebatte über die Zukunft von Bevölkerung, Wirtschaft, Politik und Kultur in Deutschland hervorgeht.
So wenig wie Politik statisch ist, so wenig ist Heimat etwas Statisches. Heimat ändert sich. Heimat kann und muss gestaltet werden. Heimat ist keiner allein. Heimat sind wir zusammen.”
Den ausführlichen Text der Ansprache finden Sie hier: 2017-03-31 Frühjahrsempfang zu Heimat _Ansprache Peter Krücker