Das Glas ist ziemlich voll, würde unser amtierender Gesundheitsminister Jens Spahn voller Optimismus wahrscheinlich sagen. Und wirklich: 80 Millionen Menschen in Deutschland sind über eine private oder gesetzliche Krankenversicherung gesundheitlich mehr oder minder zufriedenstellend versorgt. Und den gesetzlichen Kassen geht es gut – 2017 erzielten sie einen Überschuss von rund drei Milliarden Euro, ihr Zuschuss wuchs damit auf über 28 Milliarden.
Und doch ist es wie so oft eine Frage der Perspektive, denn auch das gehört zur Wahrheit: Die ehrenamtlichen Sprechstunden von Ärzt_innen in Köln, in denen Menschen ohne Krankenversicherungsschutz behandelt werden, sind ebenso voll, wie die Behandlungszimmer der Malteser Migranten Medizin oder des Gesundheitsamtes. Zu ihren Patient_innen gehören Erwerbstätige ebenso wie Kinder, alte wie junge Menschen, hier geborene sowie Eingewanderte. Die Zahl der Versicherten zu benennen ist ein leichtes, Zahlen zu den Nicht-Versicherten sind immer unscharf. Rund 80.000 Menschen ohne Krankenversicherung, sagt das statistische Bundesamt – ohne Aufschluss über die Zahl der Menschen ohne Aufenthaltspapiere, der abgelehnten Asylbewerber oder der eingewanderten EU-Bürger_innen zu geben. Wer sich hierzu ein wenig in die Recherche begibt, findet unterschiedlichste Zahlen: Mal sind es 100.000 Menschen alleine in Berlin, dann doch nur „rund“ 100.000 Personen in ganz Deutschland, dann insgesamt wieder rund 800.000 bundesweit. Die Informationen schwanken zumeist je nach politischer Färbung und Absicht.
Die Kölner Caritas erhebt keine Zahlen – ihre Mitarbeitenden begegnen Menschen und bieten dort, wo es nötig ist, Unterstützung. So auch in der Clearingstelle Migration – einem Beratungsangebot für Menschen ohne Krankenversicherungsschutz, welches in Kooperation mit dem Gesundheitsamt der Stadt Köln und der Diakonie durchgeführt wird. Die Beratenden klären Anknüpfungspunkte ans Versicherungssystem, beseitigen rückwirkende entstandene Operationsschulden, oder vermitteln – falls eine Übernahme anfallender Behandlungskosten nicht möglich ist – ans ehrenamtliche medizinische Hilfesystem Kölns. Sie haben erlebt, wie sich der Ausschluss von EU-Bürger_innen aus der Sozialhilfe Anfang 2017 ausgewirkt hat. Menschen, die nach einem Arbeitsunfall auf der Baustelle erfahren mussten, warum ihnen nie ein legaler Arbeitsvertrag vorgelegt wurde. Die kein Anrecht haben auf Lohnfortzahlung, Erwerbsminderungsrente, ja, schlussendlich nicht mal auf eine Übernahme der Kosten für die notwendige Behandlung. Die nur noch entscheiden können ins Herkunftsland zurückzukehren, oder aber gesundheitlich angeschlagen ins nächste illegale Beschäftigungsverhältnis zu schlittern. Solange, bis es eben nicht mehr geht.
Wenn Frauen bei der Entbindung noch nicht wissen, ob sie bezahlt wird
Sie begegnen Frauen kurz vor der Entbindung, die selbst nicht mehr genau wissen, auf welchen Wegen und warum sie in Deutschland gestrandet sind – die aber wissen, dass das deutsche Aufenthaltsrecht keine Nische für sie übrig hat, dass die Asylanerkennungsquote ihres Herkunftslandes nicht der Rede wert ist und die bei jeder Bahnfahrt zittern müssen, ob sie vielleicht diesmal nach ihrem Pass gefragt werden. Vorsorgetermine, Ultraschalluntersuchungen, oder Geburtsvorbereitungskurse sind ihnen fremd geblieben. Niemand hat ihnen gesagt, ob es ihren werdenden Kindern gut geht. Auch die Frage, wer ihre Entbindung eigentlich bezahlen wird, wurde ihnen nicht beantwortet. Schlussendlich wissen sie nicht mal, ob sie nicht vielleicht nach der Geburt aufgrund ihrer fehlenden aufenthaltsrechtlichen Legitimität verhaftet werden.
Der Blick auf 80 Millionen versicherte Bundesbürger trübt die Wahrnehmung auf die vielen Menschen, die schlichtweg durchs Netz gerutscht sind – ob es nun 10.000 oder 1 Millionen sind. Debatten über zu lange Wartezeiten in unseren Arztpraxen, das Praxissterben in ländlichen Regionen, oder aber evtl. sinkende Arbeitnehmerbeiträge zur Krankenversicherung sind notwendig. Sie dürfen aber nicht geführt werden, ohne klar auszusprechen, dass der eigentliche Skandal die Erwachsenen, Senioren, Kinder und Familien sind, die hier in Deutschland aufgrund ihres fehlenden Versicherungsschutzes jeden Kontakt zur Arztpraxis vermeiden. Menschen, die nur deswegen gelegentlich in die Obhut eines Arztes kommen, da es zivilgesellschaftliche Ersatzsysteme gibt, die dem Staat eine Aufgabe abnehmen, zu der er sich eigentlich durch die Unterzeichnung des Sozialpaktes der Vereinten Nationen verpflichtet hat – die Erfüllung des Menschenrechtes auf Gesundheitsversorgung. Bei 28 Milliarden Euro Überschuss in den Gesetzlichen Krankenkassen, sowie einem seit 2015 gehaltenem ausgeglichenen Bundeshaushalt ist es an der Zeit, die Bundesregierung lautstark an diese Verpflichtung zu erinnern. Krankenversicherung darf kein Anrecht der Mehrheitsgesellschaft sein. Gerade dort, wo es im wahrsten Sinne des Wortes um Leben und Tod geht, dürfen Debatten um Anspruchsleistungen und Zugangsvoraussetzungen nicht Basis unseres staatlichen Versorgungsystems sein. Gefragt ist unkündbare gesellschaftliche Solidarität und Menschlichkeit – nicht nur im Ehrenamt, sondern vor allem in unserem Krankenversicherungsrecht.
Ein Gastbeitrag von Tim Westerholt, Leitung Fachdienst für Integration und Migration