Die Pflege steht vor einem Wendepunkt

Der Verband katholischer Altenhilfe in Deutschland (VKAD) hat den Bericht der Bund-Länder-AG „Zukunftspakt Pflege“ kritisiert.

Detlef Silvers, Leiter des Geschäftsfeldes Alter und Pflege in der Caritas Köln, erläutert, warum, und erklärt Herausforderungen und Chancen.

Unfähig zur echten Reform

Das System der sozialen Sicherung ist zu großen und wichtigen Teilen in den Sozialgesetzbüchern (SGB) definiert. Dies ist seit dem 19. Jahrhundert wesentlicher Teil der sozialen Fürsorge in Deutschland. Unsere Gesellschaft und die Bundesrepublik Deutschland steht auf Grund des demographischen Wandels vor der Herausforderung eines Umbaus der sozialen Sicherungssysteme. Immer mehr alte, kranke und pflegebedürftige Menschen stehen einer sinkenden Zahl an jungen und erwerbstätigen Menschen gegenüber, bei einer sich gleichzeitig zunehmend globalisierenden Wirtschaft.

Wesentliche Säulen sind die Arbeitslosenversicherung, die Rentenversicherung, die Unfallversicherung und die Krankenversicherung, seit den 1990er Jahren ergänzt um die Pflegeversicherung. Die Finanzierung fußt dabei auf Beiträgen der Arbeitgeber (als Beitrag zu deren sozialen Verpflichtung gegenüber den Arbeitnehmern) und den eigenen Beiträgen der Arbeiter und Angestellten. Diese Finanzierung setzt voraus, dass die Wirtschaftsleistung der Unternehmen eine Produktivität hat, die neben Gewinnen der Unternehmer und angemessenen Löhnen der Mitarbeiter, auch Abgaben für die soziale Sicherung „abwirft“. Zudem beruht das System auf einem Generationenvertrag „jung sorgt für alt“.

Die Globalisierung der Wirtschaft, in denen neue Länder konkurrierend in Technologie und Herstellung von Waren vorstoßen, und die überproportionale Steigerung der Anteile alter und hochbetagter Menschen in den westlichen Gesellschaften, machen eine Weiterentwicklung der Sozialen Sicherungssysteme erforderlich.

Seit der Agenda 2010 der rot-grünen Regierung (2003-2005) unter Gerhard Schröder, die den deutschen Arbeitsmarkt und Sozialstaat grundlegend umbaute, unabhängig vom kritischen Diskurs um die Auswirkungen dieser Reform, fehlt es an wirklichen und durchgreifenden Veränderungen im Sozialsystem.

Auf die Nicht-Reform der Rentenversicherung in den letzten Monaten, folgt nun der Abschlussbericht der Bund-Länder-Arbeitsgruppe „Zukunftspakt Pflege“. Diesen kritisiert unser Fachverband Pflege VKAD der Caritas Deutschland als „Papier voller Andeutungen ohne Verbindlichkeit“. Das Papier bleibt, so der Vorsitzende des Verbandes Andreas Wedeking ambitionslos und verschiebt wichtige Entscheidungen auf den Sankt Nimmerleinstag: „Die Pflege braucht kein weiteres Sammelpapier von prüfbaren Optionen, sondern ein Reformpaket, das eindeutig regelt, was kommt, wer es finanziert und ab wann es gilt. Nur eine solche Entschlossenheit zeigt den politischen Willen zu einer stabilen Finanzierung. Die vorgelegten Eckpunkte zeigen ihn nicht.“

Die Anforderung bleibt auch aus unserer Sicht, die Weiterentwicklung der Sozialen Sicherungssysteme unter der Beachtung der unausweichlichen Wahrheiten der sich verändernden Rahmenbedingungen.

Dazu beschreibt Silvers die folgenden Herausforderungen und Chancen:

  1. Statt ständig steigender Eigenanteile bei Pflegebedürftigen braucht eine klare Abgrenzung der Pflegekosten in den Pflegeeinrichtungen zu den Kosten der Pflegekassen und Kommunen. Das Modell des „Spitze-Sockel-Tausch“, mit einer Begrenzung und Festlegung von Eigenanteilen, wurde bereits wiederholt über die Caritas eingebracht, wird von vielen Experten befürwortet, findet aber in der Politik keinen positiven Widerhall. Ob eine solche Festlegung der Eigenanteile mit festen Beträgen erfolgt, oder einkommensabhängig gestaffelt wird, wären zusätzliche Varianten.
  2. Die zunehmende Ausgabenlast der Kommunen, welche sich auch aus den steigenden Eigenanteilen der Pflegebedürftigen nährt, stellt ein echtes Problem für die bereits belasteten kommunalen Haushalte dar. Durch eine mit einer Begrenzung und Festlegung von Eigenanteilen ergäben sich hier ebenfalls Entlastungen.
  3. Die Grundlage der Finanzierung der Pflegeversicherung muss aufgrund der allein durch die Veränderung der demographischen Relation „Beitragszahler zu Beitragsempfängern“ zwingend verändert werden: Entweder eine Finanzierung aus Steuermitteln oder durch eine Ausweitung der Beitragsgrundlage über die reine Lohnabgabe hinaus (Erfassung sonstiger Einkünfte).
  4. Es gilt, so unangenehm dies sein mag, eine Prüfung und Bewertung der Leistungen aus der Pflegversicherung. Was ist die Kernaufgabe der Pflegeversicherung? Welche Leistungen müssen als Pflichtleistungen gesichert werden? Welche Leistungen sind auch als Eigenverantwortung der Altersvorsorge zu finanzieren, besonders in der Frage von Haushaltsleistungen und der allgemeinen Betreuung? In welchen Teilen muss private Vorsorge gefordert und gefördert werden?
  5. Müssen ggf. auch bestimmte Leistungen unter einen „Einwilligungsvorbehalt“ und eine „Indikationsstellung“ gestellt werden? Ist eine „Wahlfreiheit“ der Leistungen zwischen den Bereichen ambulant – teilstationär – stationär dauerhaft möglich, oder begrenzen allein Finanzierung und Verfügbarkeit hier nicht die Möglichkeiten? Wenn wir den Zugang zu den zunehmend knappen Ressourcen der Pflege nicht sinnvoll regulieren, wird dies die Notsituationen noch mehr ansteigen lassen.
  6. Die Unterhaltspflicht für Pflegebedürftige (Elternunterhalt) greift erst bei einem Jahresbruttoeinkommen der Kinder über 100.000 €. Diese Regelung wurde eingeführt, um Angehörige von Pflegedürftigen nicht zu belasten. Auch der Rückgriff auf vorzeitige Übertragungen von Vermögen wist auf eine Frist von zehn Jahren begrenzt. Beides könnte man auch als „Erbenschutzprogramm“ bezeichnen. Muss das eigene Vermögen nicht auch als Teil der Sozialen Vorsorge betrachtet werden? Und kann die Fürsorgepflicht für die eigenen Eltern tatsächlich auf eine bestimmte Einkommenshöhe begrenzt bleiben? Vor dem Hintergrund des Wandels in unserer Gesellschaft muss hier eine Diskussion erlaubt sein.

Um das System der sozialen Pflegeversicherung zu sichern, ist ein „Aussitzen“ der Probleme unmöglich. Diese werden uns dann später nur noch heftiger treffen. Natürlich haben alle Beteiligten eigene Interessen und Besitzstände – wir werden dies aber nicht alles bewahren können, wenn wir einen Zusammenbruch des Systems vermeiden wollen. Vielmehr bedarf es des Konsens: Die Pflege bedarfsgerecht und für alle sichern, indem alle einen angemessen und leistbaren Beitrag hierzu leisten.

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