Armut, Exklusion, Wahlverhalten und Politik in Köln

Ein Gastbeitrag von Prof. Dr. Thomas Münch/Hochschule Düsseldorf:

„Wahlbeteiligung höchst unterschiedlich…“ betitelt die Stadt Köln in ihrem Handout in einer Pressekonferenz zur Bundestagswahl 2017 die Wahlergebnisse, um dann im nächsten Kapitel zu beschreiben, wie sich diese Wahlbeteiligung zwischen 45,8 und 88,5 Prozent verortet. Die geringsten Wahlbeteiligungen findet man in den Stadtteilen Chorweiler, Vingst, Gremberghoven und Finkenberg. Die höchste in den Stadtteilen Hahnwald, Klettenberg, Lindenthal, Sülz, Lövenich und Junkersdorf.
Kölnerinnen und Kölner mit nur durchschnittlichem Interesse an ihrer Stadt können diese Stadtteile direkt zuordnen – in armen Stadtteilen gehen weniger Menschen zur Wahl als in wohlhabenden bzw. reichen. Oder, um erneut aus dem Handout des Presseamtes der Stadt zu zitieren: „Nichtwähleranteile nach wie vor hoch in sozial schwächeren Gebieten…“ (a.a.O.: 8).

Ohne an dieser Stelle weiter auf die interessante Frage einzugehen, was denn wohl das Presseamt der Stadt Köln unter „sozial schwach“ versteht, kann vermutet werden, dass hier der Zusammenhang zwischen sozioökonomischer Lage und Wahlbeteiligung gemeint ist. Und so ist es auch und wird empirisch belegt: In Kölner Stadtteilen und Stadtvierteln mit einem hohen Anteil an Leistungsbeziehern nach dem Sozialgesetzbuch II (umgangssprachlich auch „Hartz IV“ genannt) kann der Anteil der Nichtwähler bis auf über 60 % steigen.

Armut – so wir denn das Leben in der Grundsicherung nach dem SGB II entsprechend dem sozialwissenschaftlichen Diskurs als Leben in Armut bezeichnen (vgl. Cremer 2017) – führt zu geringerer politischer Teilhabe in Form von Wahlbeteiligung als das Leben in ökonomischer Sicherheit oder gar im Überfluss. Der reiche Kölner im Hahnwald, so könnte man diesen Befund verkürzen, schätzt den Wert seiner Wahlstimme höher ein, als der Arme in Chorweiler.
Auch das, so kann im Rückgriff auf die entsprechenden sozialwissenschaftlichen Befunde fundiert behauptet werden (vgl. Sozialbericht NRW 2016), ist keine wirklich neue Erkenntnis: Einkommen, Bildung, Gesundheit, Lebenserwartung und Teilhabe gehen miteinander einher.

Bedeutsamer wird diese Frage aber dann, wenn wir nach dem Wahlverhalten der Kölnerinnen und Kölner in Abhängigkeit von ihrem Geldbeutel fragen. CDU und FDP haben hohe Stimmenanteile in Stadtteilen wir Hahnwald, Junkersdorf, Widdersdorf und Rodenkirchen. Die FDP kommt über 19 % noch zusätzlich in Marienburg und Lindenthal – welche Überraschung!
Linke und Grüne haben ihre Schwerpunkte in der Innenstadt und in den entsprechend gentrifizierten Stadtteilen wie Nippes, Ehrenfeld und Sülz-Klettenberg – auch ein interessanter Zusammenhang!
Wie wird aber in den armen Kölner Stadtteilen gewählt? Die SPD kommt über 30 % in Nichtwählergebieten (in denen wir viele Armutsstadtteile finden) wie Vingst, Buchforst, Gremberghoven, Höhenberg und Chorweiler.
Und ähnliches gilt für die AfD – analog der SPD gewinnt sie in Stadtvierteln mit geringer Wahlbeteiligung und hohen SPD-Stimmanteilen wie Chorweiler, Gremberghoven und Vingst bis hin zu über 17 % – und das bei einem Stadtwahlergebnis von insgesamt „nur“ 7,2 Prozent. Und hier sei noch auf eine Besonderheit hingewiesen: Den größten Teil ihres Stimmenzuwachses von 21.300 Stimmen gewinnt die AfD aus dem Kreis der Nichtwähler: 17.000!

Der ehemalige Generalsekretär des Deutschen Caritasverbandes hat die Entwicklung der Armut 2016 wie folgt bilanziert: „Der eindeutige Trend: Die Einkommensungleichheit hat zugenommen“ (Cremer 2017: 30). Und entsprechend empirisch fundiert belegen dies die Sozialberichte der Kommunen, der Länder und des Bundes. Die Kommunen als Orte, an denen die Sozialstaatlichkeit des Artikels 20 Grundgesetz tagtäglich Wirklichkeit werden muss, sind die Orte, an denen Armut sichtbar und zur Herausforderung wird.

 

Sichtbar im Erscheinungsbild der Stadt, sichtbar als Wohnungslosigkeit im öffentlichen Raum, sichtbar aber auch in Stadtvierteln, die deutlich abgekoppelt erscheinen und es oftmals auch sind.
Die hier vorgelegten Kölner Zahlen lassen aber eine neue, auch bundesweite Dimension erkennen. Die „Abgehängten“ oder „Exkludierten“ verändern ihr Wahlverhalten: Von der Wahlverweigerung treten sie hinüber ins gezielte Wählen einer rechts- oder nationalkonservativen Partei wie der AfD.
Konnte man noch bis vor einigen Jahren die Karten der Wahlverweigerung fast deckungsgleich über die räumliche Verteilung der Armut in Köln legen (siehe Abbildungen), so ist nunmehr eine neue politische und wahlpolitische Karte hinzugekommen: die Ergebnisse für die AfD.

Der französische Soziologe Didier Eribon hat dieses Phänomen der radikalen Wählerwanderung von links nach rechts in seinem biografisch gefärbten Bericht „Rückkehr nach Reims“ (Eribon 2016) am Beispiel seiner eigenen Familie konkret und nachvollziehbar beschrieben. Folgen wir seiner Beschreibung so kann sie uns eine erste Analyse der Kölner Wahlergebnisse liefern: Es gibt erste Anzeichen dafür, dass arme Bevölkerungsgruppen von der Passivität der Wahlverweigerung zur bewussten Wahl rechtskonservativer Parteien wechseln. Verlassen von ihren traditionellen sozialdemokratischen Interessenvertretern – so Eribon – entscheiden sie sich bewusst für eine andere politische Tradition. Denn „…die linken Parteien dachten und sprachen fortan nicht mehr die Sprache der Regierten, sondern jene der Regierenden“ (a.a.O.: 121).

Dass diese Entwicklung auch im „weltoffenen“ und „herrlichen“ Köln sichtbar werden musste – wenn auch nicht in ostdeutschen Dimensionen – war zu erwarten. Bedeutsam wird sein, wie die Stadtgesellschaft auf diese neue Problematik reagieren wird. Wird man das Verhältnis von „Zentrum und Peripherie“ (man schaue sich nur die Verkehrsanbindung der „arrival city“ Kölnberg an und dann die städtischen Empfehlungen für einen „Radschnellweg“) neu regeln? Wird man die ungleichen Belastungen und Ausstattungen der einzelnen Stadtteile (die Verteilung der Flüchtlingsunterkünfte ist dafür nur ein Beispiel) angleichen? Wird man endlich die katastrophale Unterversorgung im „Sozialen Wohnungsbau“ in die eigenen Hände nehmen (wie z.B. in Wien) oder weiter dem „Markt“ überlassen?
Diese neuen Erscheinungsformen der Armut im Wahlverhalten kann Kommunalpolitik natürlich ignorieren. Aber dann sollten sich die Damen und Herren Stadtverordnete nicht über entsprechende Wahlergebnisse in unserer Stadt wundern. Die Bundestagswahl war ein erstes Zeichen an der Wand.

Oder um zum Ende noch einmal Eribon zu zitieren: „Sie (die Wähler des FN) versuchen, ihre kollektive Identität zu verteidigen, oder jedenfalls ihre Würde, die seit je mit Füßen getreten worden ist und nun sogar von jenen missachtet wurde, die sie vorher repräsentiert und verteidigt haben…sie verlangen nach Gesten der Bestätigung“ (Eribon 2016: 124).

 

Literatur:
Cremer, Georg. 2017: Armut in Deutschland. München
Eribon, Didier. 2016. Rückkehr nach Reims. Berlin
MAGS NRW. 2017: Sozialbericht NRW. Düsseldorf
Stadt Köln 2016:  Statistisches Jahrbuch 2016. Köln
Stadt Köln. 2017: Bundestagswahl 2017 in Köln. Handout zur Pressekonferenz am 25.09.2017. Köln

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert