Abtragung

ABTRAGUNG, F Windisch ©joschwart.com

ABTRAGUNG, F.Windisch ©joschwartz.com

Ludger Hengefeld ist Leiter der Stabsabteilung Engagement und Zivilgesellschaft

Eine junge Frau schleift einen Tisch ab. Der hell erleuchtete Raum hat glatte weiße und Wände kaum weiteres Inventar, aber Schaufensterscheiben in zwei Richtungen, so dass Passanten nicht nur das Geräusch hören, sondern ihr auch bei der Arbeit zusehen können. „Die trägt keine Micky-Mäuse“, stellt einer fest, „wenn das ihr Chef sieht – dann gibt es gleich Ärger!“ Wenn schon keine Ohrschützer, einen Mundschutz und einen Blaumann trägt Franziska Windisch allerdings; der große Raum ist inzwischen auch schon reichlich mit dem Staub besetzt, den die tägliche Abschleifarbeit erzeugt hat. Außerdem ist es Dezember und abends schon einmal etwas frischer. Auch die ausliegenden Drucksachen der Galerie liegen unter einer Schicht aus Holzstaub. „Abtragung“ kann man an der Schaufensterscheibe lesen, und die Arbeitszeiten der Brüsseler Künstlerin nachlesen: zwei Wochen lang will sie zu den Werktagen jeweils eineinhalb Stunden schleifen. Eine Abschlussperformance ist ebenfalls angekündigt.

Der Ebertplatz in Köln ist kein Ort, an dem man einen kölschen Heimatliederabend veranstalten würde. Eine technisch aussehende und an keiner Stelle mit Sichtbeton sparende Platzarchitektur der frühen 1970er Jahre hat die Fußgänger unter die Erde kanalisiert, damit die Verkehrsflüsse von Ring und Ausfallstraßen oben bleiben können. Seit Jahren funktionieren die Rolltreppen nicht; Blätter neben dem Stufen zeugen von mehr als nur einem Herbst. Die ursprüngliche Ladenlandschaft in dieser Betaebene der Stadt blüht längst nicht mehr. Einige Kunsträume dienen der vermietenden Stadt als Zwischennutzer, ein afrikanisches Restaurant hat mitunter Besucher, ein Copyshop. Die Galerie, in der die Künstlerin ihren Tisch abschleift, heißt „Boutique“, wobei dieser verheißungsvolle Name durchgekreuzt ist. Gegenüber wohnen einige Obdachlose, Rumänen, erzählt man. Wenn Franziska Windisch von „Abtragung“ spricht, merkt man, dass nicht nur der Tisch gemeint ist. Dabei ist es keineswegs menschenleer. Gut zweihundert Passanten kommen an der Boutique vorbei im Laufe einer Schicht. Sie sehen die sich täglich vollziehende Arbeit im Vorübergehen, einige schauen auch mal genauer durch die Schaufensterscheibe. In die Galerie traut sich kaum jemand: man stört nicht bei laufenden Arbeiten. Wer die aufgeführten Zeiten nicht genau nachsieht, wird sich möglicherweise nicht einmal sicher sein, ob er da bei einer künstlerischen Arbeit zusieht oder irgend einem vorbereitenden Handwerksprozess.

ABTRAGUNG, F. Windisch; Foto: ©joschwart.com

Es ist plötzlich sehr laut geworden am Ebertplatz. Die Künstlerin hat unter der inzwischen sehr dünn gewordenen Tischplatte Tonabnehmer angebracht und für ihre Abschlussperformance vor der Türe der Galerie eine massive Lautsprecherbox postiert. Eine größere Anzahl Menschen steht um das Geschehnis herum, einige weitere werden durch die Betrachter und das Geräusch angelockt oder bleiben auf ihrer Passage stehen. Es wird fotografiert und gefilmt. Gespräche gibt es angesichts der Lautstärke wenig. Der dunkelhäutige Inhaber des Copyshops kennt das Geräusch inzwischen wohl gut. Auf dem Weg zurück in seinen Laden zeigt er einem Fragenden mit zwei Fingern an, wie dick die Tischplatte ursprünglich war. Franziska Windisch zeichnet mit einem Bleistift Bogenlinien auf den Tisch, dann schleift sie wieder.

Je länger man zuhört, desto eher hört man, wie veränderlich der Ton des Schleifens ist, merkt, wie die Stelle auf der Tischplatte ihn beeinflusst. Möglicherweise denkt man an den Zahnarzt oder eigene langwierige Handwerksaktionen, an den Kontostand oder das eine oder andere experimentelle Musikstück. Die Künstlerin regelt allmählich die Frequenz des Schleifgeräts herunter, so dass ein immer tieferer Ton entsteht, der irgendwann mit dem Ausschalten zum Ende kommt.

ABTRAGUNG, F. Windisch; Foto: ©joschwartz.com

Sorgfältig fegt sie den Raum aus und häuft das in zwei Wochen erzeugte Holzmehl zu einem Berg auf dem Tisch. Dann schaltet sie die Verstärkeranlage ab und holt die Box in den Raum zurück.

„Abtragung“ fand statt im Rahmen des Kunstprojekts „Erbarmen als soziale Form“, in dem 12 KünstlerInnen Hintergründe und Umstände der Lebensmitteltafeln ausloten.  (Auf der Website sind auch links zur Aktion von Franziska Windisch.)

Dieser Blog-Beitrag stammt von Dr. Johannes Stahl, dem Kurator des Projektes “Erbarmen als soziale Form”.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert