Ein Kommentar von Matthias Reuter, Leitung SPZ Köln-Porz 
50 Jahre Psychiatrie-Enquête
 Das Sozialpsychiatrische Zentrum Köln-Porz – ein Kind der Psychiatriereform
Oder wie aus Irren Expert*innen wurden
Ohne Psychiatrie-Enquête keine Psychiatriereform und ohne Psychiatriereform würden wir
 heute noch von Begriffen wie „Anstaltspsychiatrie“, von „Verrückten“ und „Irren“ sprechen. Von
 Menschen, die in unwürdigen Verhältnissen leben, fernab von zu Hause, herausgerissen aus
 ihrem Lebensraum. Abseits von einer Wohlstandsgesellschaft, die „Irre“ wegsperrte und sie
 lieber vergaß, sie verwahrte, anstatt sie zu behandeln.
Um ein SPZ (Sozialpsychiatrische Zentrum) zu verstehen ist es wenig hilfreich, die zahlreichen
 Angebote, mit großartigen Namen und nichtssagenden Kürzeln aus dem Sozialgesetzbuch
 aneinanderzureihen. Um die Bedeutung und Relevanz eines SPZ zu begreifen, hilft der
 berühmte Blick über den Tellerrand: genauer gesagt, die evolutionäre Entwicklung des
 „Schreckgespenstes der Psychiatrie“, mit seinen verschiedenen Perspektiven auf Menschen
 mit psychiatrischen Diagnosen, aus der die Sozial- bzw. Gemeindepsychiatrie und schließlich
 das SPZ Köln-Porz hervorgegangen sind.
Als das SPZ Köln-Porz 1994 seine Türen öffnete, war es ein Kind der Psychiatrie-Reform. Eine
 Reform, die eine bahnbrechende Veränderung einleitete und deren Bedeutung heute fast
 vergessen erscheint. Blicken wir zurück: was war jetzt eigentlich die Psychiatrie-Enquête noch
 einmal? Warum ist sie so besonders? Und was bedeutete es, vor der Psychiatrie-Reform,
 „psychisch krank“ zu sein und wie ist Gesellschaft mit den betroffenen Menschen
 umgegangen?
50 Jahre Psychiatrie-Enquête: raus aus den Anstalten
 Startpunkt für die Sozialpsychiatrie und Grundsteinlegung für die SPZ, die im Rheinland
 deutschlandweit einzigartig sind, war die Psychiatriereform, der die Psychiatrie-Enquête
 vorausgegangen war und in diesem Jahr ihr 50-jähriges Jubiläum feiert.
 1971 wurde durch die damalige Bundesgesundheitsministerin Käthe Strobel die 19-köpfige
 Enquête-Kommission, unter Prof. Kulenkampff (damals Landesrat vom LVR), ins Leben
 gerufen. Ziel: die Beendigung des Psychiatrie-Notstands. In der Geschichte der Medizin hat
 kein Ereignis das Schicksal der Kranken und die psychiatrische Versorgung so einschneidend
 verbessert wie die Psychiatrie-Enquête der Bundesrepublik Deutschland. Der Bericht über die
 Lage der Psychiatrie in Deutschland (Psychiatrie-Enquête) von 1975 gilt als Meilenstein in der
 Geschichte der Psychiatriereform und als Ausgangspunkt tiefgreifender Veränderungen. Noch
 nie zuvor und danach wurde die Psychiatrie mit ihren Entwicklungsbedarfen und -zielen so
 umfassend beschrieben.
Ein dunkler Spiegel: Die lange Geschichte der Ausgrenzung
 Psychisch kranke Menschen wurden über Jahrhunderte nicht als hilfsbedürftig, sondern als
 „bedrohlich“, „sündhaft“ oder „wertlos“ betrachtet. Sie galten als „wahnsinnig“, „besessen“ oder
 „charakterlich defekt“. Ihre Unterbringung erfolgte in Kerkern, Zuchthäusern oder später in
 abgelegenen „Irrenanstalten“. Es ging nicht um Heilung – es ging um Ordnung. Um das
 „Entfernen des Unpassenden“. Schon früh prägten Psychiater dieses Bild. Der Heidelberger
 Direktor Friedrich Groos schrieb 1826: „Die Irrenanstalt ist im Grunde als ein Gefängnis zu
 begreifen“. Christian Roller, Reformpsychiater und Gründer der Anstalt Illenau, war
 überzeugt: „Der Geisteskranke muss aus seiner Umgebung gerissen und isoliert
 werden. Pflege und Erziehung sind nur im Abseits möglich“.
1933–1945: Sprache wird Gewalt – Todesurteil psychiatrische Diagnose
 Mit der NS-Zeit radikalisierte sich diese Haltung. Psychiatrische Diagnosen wurden zur
 Grundlage für systematische Tötung. Die nationalsozialistische Sprache degradierte
 Menschen zu „unnützem Leben“, „Ballastexistenzen“ oder „lebensunwertem Dasein“. Viele
 führende Psychiater machten mit – aktiv, planend, schweigend. Werner Heyde, psychiatrischer
 Gutachter und zentraler Organisator der NS-Tötungsprogramme, rechtfertigte die Tötung
 „psychisch Kranker“ als „notwendige Maßnahme zur biologischen Hygiene des
 Volkskörpers“. Carl Schneider, Psychiatrieprofessor in Heidelberg, nannte behinderte Kinder
 „geistige Todeskandidaten“. Auch er war an Kindermorden beteiligt.
Zeitleiste: Aktion T4 und die industrielle Vernichtung
 • 1939: Adolf Hitler unterzeichnet die geheime „Ermächtigung zur Tötung unheilbar
 Kranker“.
 • 1940: In sechs Tötungsanstalten (u.a. Hadamar, Grafeneck) werden über 70.000
 Menschen vergast – geplant, organisiert, begleitet von Psychiatern und Verwaltung.
 • 1941: Nach Protesten (u.a. von Bischof von Galen) wird die „Aktion T4“ offiziell
 gestoppt – die Tötungen gehen jedoch dezentral weiter.
 • 1941–1945: Weitere 30.000 bis 40.000 Menschen sterben durch Injektionen,
 Hungerkost, Vernachlässigung.
 • 1945: Das NS-Regime endet. Viele Täter bleiben unbehelligt.
Nach 1945: Schuld, Schweigen, Stillstand
 Mehr als 100.000 psychisch kranke und behinderte Menschen wurden zwischen 1939 und
 1945 ermordet. Kliniken wurden zu Tatorten und Psychiater zu Tätern. Nach dem Krieg wurde
 die Beteiligung der Psychiatrie an den Morden nur zögerlich aufgearbeitet. Viele NS-belastete
 Psychiater blieben in Amt und Würden – an Kliniken, Universitäten, Ministerien. Die
 Verwahrpsychiatrie lebte weiter. Anstalten blieben überfüllt, mit fragwürdigen Therapieformen,
 und entmenschlichend.
Während des Wirtschaftswunders in der neuen Bundesrepublik wurden die psychisch Kranken
 schlichtweg in den menschunwürdigen Massenunterkünften der Psychiatrie, fernab von
 Städten, vergessen. Erst in den 1960er Jahren begannen vereinzelte Stimmen, dieses System
 zu hinterfragen.
Noch 1973 sprach die Enquête-Kommission des Bundestags von „brutaler Realität“ und „nicht
 hinnehmbaren Verhältnissen“ in der bundesdeutschen Psychiatrie. Der Psychiater und
 Zeitzeuge Heinz Häfner resümierte später: „Die Enquête war ein Akt der verspäteten
 Zivilisierung. Sie war die erste echte Hinwendung zur Humanität in der Geschichte der
 deutschen Psychiatrie“.
Die Enquête als Wendepunkt (1975)
 Die Psychiatrie-Enquête des Bundestags stellte die Zustände offen bloß. Sie forderte eine
 radikale Wende: Weg vom Verwahren, hin zu gemeindenaher, menschenwürdiger Versorgung.
 Sozialpsychiatrische Zentren, insbesondere im Rheinland, wurden konkrete Bausteine dieser
 Reform.
Sozialpsychiatrische Zentren: gemeindenahe Versorgung
 Psychisch kranke Menschen wurden nicht mehr aus dem Alltag und Lebensraum gerissen.
 Hilfen sollten dort ansetzen, wo Menschen leben: im häuslichen Umfeld, im Stadtteil, in der
 Gemeinde. Ambulante Angebote wie SPZ, begleitetes Wohnen, Tagesstätten und mobile
 Dienste ersetzten zunehmend die stationäre Langzeitunterbringung. Im Zentrum stehen heute
 Teilhabe statt Ausgrenzung, Unterstützung und Personenzentrierung statt Zwang. Aus „Irren“,
 „Kranken“ und „unwertem Leben“, sind Expert*innen in eigenen Angelegenheiten geworden.
Dazu eine offizielle Definition von der AGpR (Arbeitsgemeinschaft Gemeindepsychiatrie
 Rheinland e. V.): SPZ sind essenzielle Bausteine und Lotsen in der sozialpsychiatrischen
 Versorgungslandschaft, die durch Niederschwelligkeit und Personenzentrierung
 gekennzeichnet sind. Sie arbeiten sozialträgerübergreifend und sind aktiv an Netzwerken
 beteiligt. Ob Krisensituation, Fragen von Betroffenen, Angehörigen oder Nutzenden, zu
 psychischen Krankheitsbildern, Unterstützungsmöglichkeiten und Psychoedukation oder zur
 Prävention, berät und unterstützen die SPZ. Dabei gelten die Prämissen der Ressourcen-,
 Lösungs- und Stärkenorientierung, der Abbau von Barrieren, die Teilhabe im Wege stehen.
 Unabhängig von Schwere oder Intensität der „psychischen Erkrankung“. Flankiert werden die
 Prämissen durch die Konzepte Recovery, Empowerment, Niederschwelligkeit und
 Sozialraumorientierung. Dabei spielen Status, Religionszugehörigkeit, Geschlecht, Sprache
 oder kultureller Hintergrund keine Rolle.
Ein Beispiel gelebter Reform: SPZ Köln-Porz
 Wie aus den Leitlinien der Psychiatriereform konkrete, lebensnahe Hilfen entstanden, zeigt
 das SPZ Köln-Porz. Hier wird sichtbar, wie gemeindenahe Versorgung, Teilhabe und
 persönliche Unterstützung im Alltag der Nutzenden heute gestaltet werden können.
 Das SPZ Köln-Porz ist die erste Anlaufstelle für Menschen mit psychiatrischen Diagnosen,
 psychischen Problemen, mentalen Krisen oder deren Angehörige. Ohne bürokratische Hürden
 oder endlose Wartezeiten treffen Expert*innen in eigenen Angelegenheiten auf empathische
 offene Ohren von Expert*innen für Lösungsprozesse.
Kontrastierend zur naturwissenschaftlichen Disziplin der Psychiatrie, die von kleinen
 Zeitfenstern und einem defizitären „Krankheitsblick“ geprägt ist und Seelenheil qua Medizin
 behandelt, geht es im SPZ um die soziale Dimension psychischer Sensationen. Deutlich wird
 der Gegensatz im Bereich der Lösungen: die Psychiatrie hat bereits vorgefertigte Lösungen
 für alle psychischen Probleme in Form von Diagnostik und entsprechender Behandlung. Durch
 die ungleiche Verteilung des Expertentums, Fachärzteschaft vs. Patient*in, entsteht ein
 Ungleichgewicht in der Beziehung, das im SPZ aufgelöst wird.
Im SPZ treffen Expert*innen in eigenen Angelegenheiten auf Expert*innen für
 Lösungsprozesse. Die Expertise ist auf beiden Seiten gleichmäßig verteilt. Das bedeutet:
 Expert*innen für eigene Angelegenheiten liefern ihre Expertise und Inhalte für die Expert*innen
 für den Lösungsprozess. Gemeinsam werden individuelle, anschlussfähige und
 personenzentrierte Lösungen kreiert. Anstatt Defizite und „kranke Anteile“ zu fokussieren,
 werden individuelle Möglichkeiten und Ressourcen in den Blick genommen, um Perspektiven
 zu eröffnen, Neues auszuprobieren und „einzuüben“, zu begleiten und zu verselbstständigen.
 Voller Neugierde für das Gegenüber werden Türen geöffnet, Rückenwind gegeben,
 gemeinsamen Erlebnissen ermöglicht, um den Grundstein für Wachstum, Veränderung und
 Hoffnung zu legen.
Grundlegend dabei ist die Haltung: also der Blick auf das Gegenüber. Das SPZ als ein Raum
 der Begegnung, zeichnet sich durch Empathie und einer bedingungslosen Annahme des
 Gegenübers aus, gepaart mit einer symmetrischen, liebevollen und verbindlichen
 Beziehungsgestaltung.
Das Herzstück: die Kontakt- und Beratungsstelle
 Der Weg ins SPZ führt im Idealfall über die offene Sprechstunde (ohne Anmeldung, mit wenig
 Wartezeit) oder manchmal auch spontan „zwischen Tür und Angel“. In einem Erstgespräch
 (Clearing) werden Bedürfnisse und Anliegen gehört. Manchmal geht es nur um das Einholen
 einer Information, manchmal um eine Weitervermittlung zu einer spezialisierten Stelle und
 manchmal hilft einfach nur zuhören. Anderen hilft eine Sequenz von 10 Sitzungen
 systemischer oder psychosozialer Beratung oder die Anbindung an die vielfältige
 Angebotsstruktur in der Kontaktstelle oder an unseren ambulanten Bereich.
Die Kontaktstelle eröffnen einen psychisch-emotional sicheren Raum, der Ausprobieren und
 Lernen, sowie Gemeinschaft unter Gleichgesinnten oder Ausflüge in der Gruppe ermöglicht.
 Die Angebote reichen von der Bewegungs- und Sportgruppe, über Kunsttherapie, Kreativ-,
 Frauen- und Angehörigengruppe, bis hin zu verschiedenen Ausflügen. Dazu gehören
 beispielsweise Bootsfahrten oder Besuche im Zoo und auf Weihnachtsmärkten. Ergänzt
 werden die Angebote durch gemeinsames Frühstücken oder Brunchen. Aber auch
 Angehörigen- und Selbsthilfegruppen oder Themen wie Prävention und Psychoedukation,
 finden ihren Platz.
Neben dem Austausch über Tipps und Erfahrungen zu Bewältigungsstrategien, unterstützen
 sich Nutzende beispielsweise durch gegenseitige Begleitungen bei Arztbesuchen. Andere
 berichten wiederum wie wichtig Gemeinschaft, Verbundenheit, Akzeptanz, Anerkennung und
 Tagesstruktur sind, um mentale Tiefen zu überwinden. Grundsätzlich richtet sich das
 facettenreiche Programm an den Bedürfnissen und Interessen der Nutzenden aus, die
 wiederum im Nutzenden-Beirat organisiert sind.
Ambulante Begleitung im eigenen Lebensumfeld
 Die Bausteine der Kontakt- und Beratungsstelle werden durch den ambulanten Bereich
 ergänzt und abgerundet. Hier stehen verschiedene Möglichkeiten der ambulanten Begleitung
 und Unterstützung zur Verfügung. Das klassische BeWo (Begleitetes Wohnen) wird durch das
 APPV-Modellprojekt (ambulante psychiatrische Pflege und Versorgung) der AOK ergänzt. Die
 Niederschwellige Wiedereingliederungshilfe (NSE), in Kooperation mit dem
 Sozialpsychiatrischem Dienst der Stadt Köln, rundet das Angebot ab. Ambulante Begleitung
 bedeutet: eine strukturierte, regelmäßige, intensive und längerfristige Begleitung und
 Unterstützung, im Lebensraum der Nutzenden, mit einer festen Bezugsbetreuung. Die o.g.
 Haltung bildet sich auch im ambulanten Setting ab.
Sinn, Zweck und Ziel für alle Bereiche des SPZ können vereinfacht und verkürzt als Hilfe zur
 Selbsthilfe beschrieben werden. Das Wort Hilfe ist dabei dahingehend zu verstehen, dass
 individuelle, bedürfnis- und personenzentrierte Lösungen, in Zusammenarbeit mit den
 Nutzenden erarbeitet werden, um Teilhabe an Gesellschaft zu ermöglichen. Konkret kann das
 bedeuten, dass ein größtmögliches Maß an Unabhängigkeit, Lebensfreude und
 Selbstständigkeit erreicht wird, um ein Leben nach eigenen Wünschen und Plänen zu
 ermöglichen und zu gestalten. Auch wenn möglicherweise Symptome bzw. limitierende
 physische oder psychische Faktoren vorhanden sind.
Zahlen, Daten, Fakten
 Das SPZ Köln-Porz öffnete 1994 seine Türen und ist für den Stadtbezirk 7, also für Eil, Elsdorf,
 Ensen, Finkenberg, Gremberghoven, Grengel, Langel, Libur, Lind, Poll, Porz, Urbach, Wahn,
 Wahnheide, Westhoven und Zündorf, zuständig.
Im Stadtteil Köln-Porz leben ca. 115.000 Menschen, von denen sich ca. 62.605 im „statistisch
 relevanten Alter“, zwischen 18 und 60 Jahren, befinden. Ein Blick in die Statistiken zeigt, dass
 jedes Jahr in Deutschland 27,8% aller Erwachsenen psychisch erkranken. Die Prävalenz auf
 Köln-Porz heruntergerechnet bedeutet: jedes Jahr trifft 17.405 Menschen in Köln-Porz eine
 psychische Erkrankung. Diese Zahl kumuliert mit den bestehenden psychisch erkranken
 Menschen. Hinzu kommen oft Angehörige, die Hilfe und Unterstützung suchen, weil sie mit,
 bis dato unbekannten, Situationen konfrontiert werden.
Während der grundsätzliche Bedarf hoch ist, Tendenz steigend, nimmt die Quantität der
 psychiatrischen Versorgung eher ab. Termine bei Fachärztinnen und Ärzten für Psychiatrie, im
 Bereich der Psychotherapie, Institutsambulanzen oder Psychiatrischen Kliniken, sind
 Mangelware und mit sehr langen Wartezeiten verbunden, während auf der anderen Seite, bei
 Betroffenen und Angehörigen, der psychische, aber auch manchmal der existenzielle
 Leidensdruck hoch ist. Dieser Trend bildet sich in den Zahlen des SPZ-Porz wieder. Das
 Personal wurde in den letzten zwei Jahren, auf 17 Mitarbeitende, fast verdreifacht.
2024
 Beratungsgespräche: 2032
 Anzahl Besuche der Kontaktstelle: 3383 (exkl. Beratungen)
 Gruppenangebote: 494
 Ambulant betreute Menschen: 117
Psychiatrie bleibt politisch
 Psychiatrie war nie unpolitisch – sie war Spiegel gesellschaftlicher Ordnungen. Heute, im
 Erstarken rechtspopulistischer und rechtsextremer Strömungen, geraten Reformideen unter
 Druck. Psychisch kranke Menschen werden erneut als „gefährlich“, als „Risiko für die
 Gesellschaft“ eingestuft. Es gibt erste Versuche aus der Politik, Melderegister zu erstellen. Die
 NS-„Euthanasie“ begann nicht in Gaskammern, sondern in Begriffen: „lebensunwert“,
 „nutzlos“, „Ballastexistenz“. Eine Demokratie muss wachsam bleiben – Sprache ist nie
 harmlos, die Sprache der Ausgrenzung und Stigmatisierung hat gefährliche Tradition – und
 beginnt lange vor der Tat. Die „gefährlichen Irren“ von damals sind zu wertvollen Mitgliedern
 unserer Gesellschaft geworden und das muss so bleiben. Ein Rückschritt aufgrund politischer
 Irrwege wäre fatal. Mit Blick auf die lokalen und globalen Bühnen der Politik und ihren
 gesellschaftlichen Erscheinungen stellt sich die altbekannte Frage, ob wir womöglich die
 Falschen behandeln.
Ausblick: Haltung zeigen
 Gemeindepsychiatrie ist mehr als Versorgung – sie ist Ausdruck eines Menschenbildes. Sie
 muss heute mehr denn je Haltung zeigen: Gegen Entsolidarisierung, gegen Abwertung, für
 eine Gesellschaft, in der Menschen mit psychiatrischen Diagnosen nicht stigmatisiert, sondern
 als Teil menschlicher Vielfalt anerkannt werden. Schließlich kann es jede und jeden von uns,
 jederzeit, treffen. Die Wahrscheinlichkeit für eine psychische Erkrankung ist hoch: jedes Jahr
 trifft es ca. 28% aller erwachsenen Menschen, also fast jeden Dritten.
Matthias Reuter