Am vierten Tag unserer Projektreise fahren wir nach Rreshen am Rande der Albanischen Alpen. Noch vor wenigen Jahren gehörte Rreshen zu den strukturschwachen Gebieten im Osten Albaniens. Der größte Teil der arbeitsfähigen Bevölkerung war arbeitslos oder unterbeschäftigt und kämpfte ums Überleben. Heute liegt Rreshen an der Schnellstraße, die den Kosovo mit den albanischen Mittelmeerhäfen verbindet. Hier betreuen eine junge Ordensfrau aus dem Kosovo und ausgebildete Krankenschwestern etwa 50 pflegebedürftige Menschen, die in extremer Armut leben. Wir wollten sehen, wie die ambulante Krankenpflege der Caritas in Albanien organisiert ist, wo es keine sozialen Sicherungssysteme gibt, wie wir sie kennen.
Schwester Dafina, eine Vinzentinerin, begrüßt uns herzlich und lädt uns erst einmal zu einer kleinen Andacht in die Kathedrale ein. Uns berühren ihre zupackende Art und ihr unerschütterlicher Glauben, den sie mit jeder Geste ausstrahlt, zutiefst. Wir dürfen sie und ihre Kolleginnen bei ihren Krankenbesuchen an diesem Morgen begleiten. Auf dem Weg erzählt sie uns, dass sie schon als Jugendliche Nonne werden wollte und davon geträumt habe, in Afrika den Ärmsten zu helfen. Da sie ursprünglich aus dem Kosovo stammt, habe sie Kontakt nach Albanien bekommen. Bei einem Besuch in den albanischen Alpen habe sie ihr Afrika gefunden.
Als erstes besuchen wir einen 67 Jahre alten, ehemaligen Lehrer, der im Endstadium an Krebs erkrankt ist. Um uns zu begrüßen, hat er zum ersten Mal seit Wochen das Haus verlassen und sich die steile und kaum begehbare Treppe in den Garten herunter geschleppt. Das Haus gleicht einer Ruine, dunkel und kalt ohne fließendes Wasser und Strom. Hier lebt er mit seiner Frau und seinen drei Kindern im Alter von 13, 10 und 6 Jahren, die sich mit ihrer Mutter zwei Betten in einem Zimmer teilen. Die Familie lebt von der Rente des Vaters, umgerechnet 80 Euro im Monat. Das reicht heute in Albanien nicht einmal für das Lebensnotwendige geschweige denn für die medizinische Versorgung eines Schwerkranken. Schwester Dafina erzählt, dass der Patient seine Schmerzen oft mit Alkohol betäubt auch weil er hofft, dass er damit schneller von seiner Qual erlöst würde. Einige von uns dürfen dabei sein, als die Schwester zusammen mit der Krankenschwester seine offene Wunde in Höhe des rechten Schulterblatts versorgt. Es ist eine handtellergroße Wundfläche, aus der der Schulterknochen ungeschützt herausragt. “Bei diesen Rahmenbedingungen und angesichts des schlechten Allgemeinzustands des Patienten ist die Wunde in einem erstaunlich guten Zustand”, erzählt uns Lucia Bühler, Bereichsleiterin für Altenhilfe beim Caritasverband Gießen, als wir im Auto zum nächsten Patienten fahren.
Wir besuchen einen jungen Mann, der nach einem Arbeitsunfall auf einer Baustelle in Griechenland, seit Jahren querschnittgelähmt im Bett liegt. Er kann weder das Bett, noch sein Zimmer verlassen. Sein einziger Kontakt mit der Außenwelt sind seine betagte Mutter, ein flimmerndes Fernsehgerät und ein alter PC mit Internetanschluss. Dem jungen Mann ist die Aussichtslosigkeit seiner Lage so bewusst, dass er oft schwer depressiv ist. Schwester Dafina besucht ihn deshalb nicht nur wegen der Pflege sondern, um ihn seelisch zu unterstützen. Nach einem weiteren Hausbesuch bei einer Familie mit drei Pflegefällen, verabschieden wir uns tief beeindruckt und mit großem Respekt von Schwester Dafina und ihren Kolleginnen. Die Schicksale der Menschen, die wir an diesem Morgen kennengelernt haben, berühren uns nachhaltig und begleiten uns auf dem Weg zu unserer nächsten Station.
In Dajc, einem Ort mit 8.000 Einwohnern im Flussdelta südlich von Shkodra und nahe der Grenze zu Montenegro, erwartet uns Pfarrer Don Marian zusammen mit den Vertretern von zwei Teilgemeinden. Noch im März stand die Gegend hier – ein fast 60 Quadratkilometer großes Gebiet – drei Wochen lang unter Wasser. Dies war in nur 3 Jahren bereits das zweite Mal. Für die Bevölkerung hier bedeutet das erneut schwere Ernteausfälle, Verlust von Vieh und in vielen Fällen erhebliche Schäden an ihren Häusern. Zu unserer Überraschung erzählt uns Don Marian von dem Segen der letzten Überschwemmungen. Denn sie hätten dazu geführt, dass die Menschen näher zusammen gerückt seien und jeder jedem im Rahmen seiner Möglichkeiten geholfen habe. Für Don Marian war diese spontane Solidarität ein großes Geschenk. Denn gerade die älteren Menschen hier haben jahrzehntelang unter den erzwungen “freiwilligen” Arbeitseinsätzen des kommunistischen Regimes gelitten. Noch bei den Überschwemmungen vor drei Jahren konnte er sie für keine gemeinsamen Einsätze gewinnen.
Don Marian mit zwei ehrenamtlichen Dorf-Verantwortlichen.
Die beiden älteren Herren, die jetzt als Ehrenamtliche ihre Dörfer vertreten, erzählen uns gerne wie sie die Hilfe der Caritas erlebt haben. Die Caritas und Don Marian hätten die Verteilung der Hilfsgüter vollkommen transparent organisiert. Zum ersten Mal hätten sie erlebt, dass selbstlose Hilfe möglich sei. Die Caritas als Organisation habe in keinem Moment aus Eigennutz gehandelt. Nach den Erfahrungen unter der kommunistischen Diktatur und dem jetzigen politischen System sei das für sie eine völlig neue Erfahrung gewesen. Die beiden “Dorfältesten” erzählen, dass es auch zu kommunistischen Zeiten mehrmals so große Überschwemmungen gegeben hätte. Dann seien die Soldaten angerückt und hätten ihnen befohlen, was sie zu tun und zu lassen hatten. Die Caritas aber sei gekommen, habe mit ihnen geredet, ihnen zugehört und sie beraten.
Als wir nach Tirana zurückfahren, nehmen wir ganz unterschiedliche Eindrücke mit. Nach den bedrückenden Erfahrungen am Vormittag erfüllen uns die Begegnungen und Gespräche in Dajc mit der Zuversicht, dass die Menschen in Albanien Schritt für Schritt lernen, ihr Leben wieder selbst in die Hand zu nehmen.
Gastbeitrag von Chritine Decker, Caritas International
31. Mai 2013