“Ich bin behindert, ich werde arm leben.”

Tag 4 der Projektreise mit caritas international nach Marokko, 31. Mai, Teil 1, Blogbeitrag von Marianne Jürgens und Guido Geiss

Vor rund 10 Jahren war die Situation für Menschen mit Behinderung in Marokko noch hoffnungslos. es gab keinerlei Förderung. Es ist Initiativen betroffener Eltern zu verdanken, dass es jetzt Förderzentren gibt, Schulbesuche in Regelschulen möglich sind und Jugendliche mit Behinderung beruflich qualifiziert werden.
Heute haben wir das Förderzentrum der “Vereinigung der Zukunft” besucht. Gegründet wurde es 2006 von Fatima Serhane, sie ist selbst Mutter eines Sohnes mit geistiger Behinderung. Als sie ihn in einer Regelschule anmelden wollte, stieß sie überall auf Ablehnung, selbst Privatschulen sagten ihr: Ein behindertes Kind ist unzumutbar, wir sind nur für die Normalen da.

So hat sie die Sache selbst in die Hand genommen und mit einer integrierten Schulklasse begonnen. Im Laufe der Jahre kamen weitere dazu, außerdem Förderangebote wie Physiotherapie, psychologische Unterstützung, Kreativworkshops und Qualifizierung in Massage, Friseurhandwerk, Hauswirtschaft, Schreinerei und vielem mehr. Mittlerweile hat die charismatische 56-jährige viele Auszeichnungen erhalten und Unterstützung von vielen Seiten.
Sie hatte selbst eines der katholischen Gymnasien besucht, von denen der Bischof uns am Tag vorher berichtet hatte. Daher lag es für sie nahe, sich mit ihrem Anliegen an die Caritas zu wenden. Die Caritas in Marokko hilft im Rahmen ihres Programms des zivilgesellschaftlichen Engagements und finanziert u.a. die gesamte Ausstattung des Zentrums: “Ohne Caritas wäre es nicht möglich.” 120 Kinder besuchen ihr Förderzentrum inzwischen.
Heute gibt es überall in Marokko solche Zentren, den Bau finanziert die Stiftung König Mohammed V., die laufenden Kosten werden aber nicht gedeckt.
Viele Kinder mit Behinderung stammen aus armen Familien und diejenigen, die reich sind, werden durch die Fördermaßnahmen, die sie meist selbst bezahlen müssen, mit der Zeit arm.
Aber es tut sich etwas, eine entsprechende gesetzliche Regelung ist im Entwurfsstadium.
Die gesellschaftliche Akzeptanz hinkt allerdings noch weit hinterher.
Fatima Serhane berichtet von Diskriminierung. Noch gibt es keine Perspektive, dass die Jugendlichen mit dem, was sie im Zentrum lernen, Geld verdienen können. Die Marokkaner haben zum Beispiel Angst, das Essen sei vergiftet. Die von ihnen hergestellten Produkte lassen sich nicht verkaufen.
In ländlichen Gebieten ist es noch schlimmer. “Also werde ich mich auch dort engagieren”, sagt sie. “Und wir verstecken uns nicht, im September habe ich mit unseren Schülern ein großes Fest auf einem öffentlichen Platz geplant, damit alle sehen, was sie können.”
Es ist also noch ein langer Weg bis zur Inklusion in Marokko, aber die ersten bedeutenden Schritte sind getan.

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Fatima Serhane gründete ein Förderzentrum für Kinder mit geistiger Behinderung.

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In der Schreinerwerkstatt

Gehörlos in Marokko
Ein anderer Teil der Gruppe besuchte heute eine Schule für gehörlose Kinder und Jugendliche eines zivilrechtlich organisierten Vereins, der von Caritas Rabat begleitet und unterstützt wird. Teil der Schulbildung ist die berufliche Qualizifierung von Jugendlichen zu Schreinern, NäherInnen und FriseurInnen, immer mit dem Ziel, ihren Lebensunterhalt selber verdienen zu können. So haben vier Mädchen nach dem Ende ihrer Ausbildung einen eigenen, erfolgreichen Friseurssalon eröffnet.
Trotz der vielen kleinen Erfolge scheint Marokko noch von einer flächendeckenden Arbeit Förderung von Menschen mit Behinderung entfernt zu sein. Familien mit Menschen mit Handicap werden in finanzieller Hinsicht und in der Früherkennung mit ihrer Problematik nach wie vor von staatlicher Seite alleine gelassen. Marokko hat allerdings die UN-Behindertenrechtskonvention unterzeichnet und macht sich mit viel zivilem Engagement auf den Weg. Die Caritas kann hier in Teilbereichen ihre Unterstützung anbieten.

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“In der Migration braucht man keine Reden, man braucht Arme und Herzen für die Menschen”

Tag 3, 30. Mai: Blogeintrag von Guido Geiss und Marianne Jürgens

Heute standen Hintergrundgespräche mit dem Erzbischof von Rabat und dem Diözesan-Caritasdirektor auf dem Programm.

Msgr. Vincent Landel, Erzbischof von Rabat, berichtete von der Situation der katholischen Kirche in Marokko. Er selbst ist Franzose, wurde als Kind französischer Eltern in Marokko geboren und gehört zur Minderheit der Katholiken in einem islamisch geprägten Staat. Jeder Marokkaner ist von Geburt an automatisch Moslem. Das bedeutet, dass die katholische Kirche in Marokko eine reine Migrantenkirche ist. Es gibt zwei Diözesen, die frankophone in Rabat und die spanisch orientierte in Tanger.
Von den 36 Mio. Einwohnern sind 30.000 Katholiken aus 100 unterschiedlichen Nationen, darunter 95 % aus Schwarzafrika. Sonntags ist die riesige weiße Kathedrale in Rabat voll und … schwarz, wie Msgr. Landel erzählt. Er schätzt die Lebendigkeit der Gottesdienste mit den Migranten. Die geringe Anzahl der in Marokko geborenen französischen Katholiken wird immer älter und weniger. Zur Diözese gehören zudem viele Studenten aus afrikanischen Ländern. Diese sind oft erst 18 Jahre jung, wenn Sie zum Studium an Marokkos Universitäten kommen, die ein hohes Niveau haben. Für die Studenten ist die katholische Kirche Familienersatz und der Bischof eine Vaterfigur. “Sie brauchen sehr viel Aufmerksamkeit, aber sind auch eine große Freude. Sie sind ein Geschenk Gottes.” Der Erzbischof sieht in den 15.000 afrikanischen Studenten eine Chance für die marokkanische Gesellschaft, sich zu öffnen. Junge marokkanische Moslems treffen auf junge Afrikaner, die eine Religion leben, die nicht die ihre ist. Und die Schwarzafrikaner haben die Gelegenheit, den Islam anders zu erleben als in ihren Herkunftsländern.

Seit der Schließung der Grenzen Europas und der Visaverschärfungen kommen immer mehr (häufig katholische) Migranten aus afrikanischen Ländern nach Marokko. Vor zwei Jahren wurden die Migranten in Marokko legalisiert: Sie können eine Aufenthaltsgenehmigung für ein Jahr beantragen und erhalten eine Arbeitserlaubnis. Diese Entwicklung hat die Caritas maßgeblich angestoßen, da sie seit 10 Jahren in der Begleitung von Migranten tätig ist und immer wieder im Dialog mit staatlichen Institutionen ist und Einfluss nimmt: “Die Caritas ist klein und kann viel bewirken, vorausgesetzt sie ist diskret und provoziert nicht.” sagt Msgr. Landel.
“Unsere kleine Diözese ist von Migranten mit schwarzer Hautfarbe geprägt. Auch mit meiner weißen Haut verstehe ich mich als afrikanischer Bischof und nehme an der Bischofskonferenz der Länder Marokko, Algerien, Tunesien und Libyen teil.” Das sind alles Länder, in denen es keine einheimischen Katholiken gibt, sondern ausschließlich Ausländer zur kath. Kirche gehören.

In 30 Gemeinden versehen 25 “ausgeliehene” Priester aus 10 verschiedenen Nationen, darunter beispielsweise Kongo und Polen, ihren Dienst. “Die Priester wechseln regelmäßig, wir fangen hier immer wieder neu an.”

Für Papst Franziskus gehört die Kirche an die Peripherie. So stößt die katholische Kirche in Marokko die Begegnung zwischen Moslems und Katholiken im Leben an, religiöse Begegnung steht dabei nicht im Mittelpunkt. Die Begleitung der zahlreichen Migranten ist eine zentrale Aufgabe: “Hier braucht man keine Reden, man braucht Arme und Herzen, um die Migranten zu begleiten.”
Bildung sieht Msgr. Landel als wesentlichen Faktor für die Entwicklung Marokkos. Die katholische Kirche unterhält selbst 15 Schulen. Einmal im Jahr trifft sich der Bischof mit den Schuldirektoren, um das gemeinsame pädagogische Konzept zu diskutieren, das auf universellen Werten basiert.

Die katholische Kirche hat zurzeit ein gutes Ansehen bei der marokkanischen Regierung und dem Königshaus. “Grundlage ist, dass ich nicht bekehren möchte. Zum Beispiel lehne ich es ab, einen Marokkaner zu taufen, wenn er mich darum bittet. Er würde als Konvertit von der Familie verstoßen und seine Arbeit verlieren.”

Wie ist Msgr. Landels Meinung zur Einschätzung von Marokko als sicheres Herkunftsland? “Aktuell teile ich diese Auffassung.”
König Mohammed hat nach dem “arabischen Frühling” sofort mit einer Verfassungsänderung reagiert, die Glaubensfreiheit vorsieht. Er versucht, “auf die Straße zu hören” und verfolgt einen Reformkurs.

Von den Touristen wünscht sich Erzbischof Landel eine Öffnung für das Land und die Menschen: “Wenn ihr zurückgeht, dann erzählt euren Landsleuten, dass man hier in einem muslimischen Land gut leben kann.” Es ist zu akzeptieren, dass Marokko islamisch geprägt ist. Europa muss seine Angst vor dem Islam ablegen.

Nachmittags lernen wir die Arbeit des Diözesan-Caritasverbandes Rabat kennen. In den eher bescheidenen Caritas-Räumlichkeiten berichtet Diözesan-Caritasdirektor Eduard Danjoy, unterstützt von zwei MitarbeiterInnen, über die Arbeit der Caritas in dieser flächenmäßig riesigen Diözese. Eine Diözese, die sich über 2000 km in nordsüdlicher Richtung und 1000 km von Ost nach West erstreckt.
Vier Schwerpunkte hat die Caritas-Arbeit in Marokko:
1. Unterstützung der Zivilgesellschaft – immer mit dem Ziel der nachhaltigen Entwicklung von zivilen Organisationen
2. Unterstützung von Projekten im Behindertenbereich für eine nachhaltige Verbesserung für Menschen mit Behinderungen und deren Angehörige
3. Behandlung von herzkranken Kindern, deren Eltern nicht ausreichende finanzielle Mittel für die Behandlung aufbringen können
4. Die Unterstützung der Arbeit mit afrikanischen Migranten
Wir fragen Monsieur Danjoy, was die Caritas für die vielen MigrantInnen aus Schwarzafrika auf ihrem Weg durch Marokko mit dem Ziel Europa tut. Kann sie die Migranten vom gefährlichen Weg über das Mittelmeer abhalten und ihre überzogenen Erwartungen an Europa mit der tatsächlichen Lage in Einklang bringen?
Er betont, das Selbstbestimmungsrecht der MigrantInnen habe für die Caritas oberste Priorität. Sie wissen, wie gefährlich die Flucht ist. Ihre Perspektivlosikeit, ihre über Jahre vorbereitete Flucht mit Unterstützung der Familie manifestiert die Hoffnung, in Europa gehe es ihnen besser und sie können auch noch die zurückgebliebene Familie mit finanzieren. Das lasse für sie nur den einen Weg zu, – mit aller Macht Europa zu erreichen. Davon lassen sie sich nicht abhalten. Wenn sie scheitern und doch zurück in ihre Heimat wollen oder in Marokko versuchen, Fuß zu fassen, ist die Caritas an ihrer Seite.
Sie erleben aber immer wieder, dass die Migranten bis zu dreimal scheitern müssen, bevor sie von ihrem ursprünglichen Plan ablassen. Gemeinsam mit den in Marokko gestrandeten Menschen versucht die Caritas dann, wieder Perspektiven auf zu bauen.

Gut vorbereitet mit den Hintergründen und Informationen zu katholischer Kirche und Caritas, werden wir morgen Initiativen der Behindertenarbeit und Migranten-Selbsthilfeorganisationen kennenlernen.
Lesen Sie auch den Blog von Christine Decker, caritas international:
http://blog.caritas-international.de/2016/05/31/kirche-und-caritas-in-marokko-wir-muessen-immer-wieder-neu-anfangen/#more-9506

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Msgr. Vincent Landel, Erzbischof von Rabat

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Unsere Gruppe mit dem Erzbischof nach dem Gespräch

Caritas Marokko

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2. von links: Diözesan-Caritasdirektor von Rabat, Edouard Danjoy

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Wir sind angekommen und haben den Kopf voller Fragen.

Tag 2, 29. Mai 2016
Nach 22 Stunden haben wir heute Mittag unser Ziel, Rabat, erreicht, eine Stadt im Aufbruch zwischen Tradition und Moderne.

Rabat ist die Hauptstadt Marokkos und der Sitz des Königs Mohammed VI.
Ahmed, unser deutschsprachiger Guide, zeigte uns heute Nachmittag die Schönheiten der Stadt, die gerade restaurierte Medina und die Festung über dem Atlantik. Mit Begeisterung erzählt er uns von den Reformen, die König Mohammed angestoßen hat. An allen Ecken in Rabat wird gebaut, Ahmed spricht von mehr Arbeitsmöglichkeiten für die Menschen in seinem Land und wirtschaftlicher Entwicklung. Trotzdem haben wir auch viel Armut in den Straßen wahrgenommen.

Wieder im Hotel angekommen, bereiteten wir uns als Gruppe auf die Begegnungen morgen mit dem Bischof von Rabat und den Caritas-Kollegen aus der Migrationsarbeit vor.
Viele Fragen bewegen uns:
Mit dem Bischof möchten wir unter anderem darüber ins Gespräch kommen, wie die Minderheit von 1 % Katholiken in einer muslimischen Gesellschaft verankert ist.
Die Caritas-Kollegen möchten wir fragen, welche Sichtweise sie zur Debatte um Marokko als sicheres Herkunftsland haben. Vor zwei Wochen hat der Bundestag Marokko, Algerien und Tunesien zu sicheren Herkunftsstaaten erklärt. Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International üben daran Kritik.
Welche Migranten kommen mit welchen Zielen nach Marokko? Welche staatlichen Hilfeprogramme gibt es? Wie hilft die Caritas hier vor Ort ganz konkret? Und was ist mit den jungen Marokkanern, die sich auf den Weg nach Europa machen oder unter Umständen auch wieder hierhin zurückkehren?
Gibt es gemeinsame Ziele in der Arbeit mit Flüchtlingen und Migranten?

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Reisetagebuch zu Projektreise mit Caritas international nach Marokko

Tag 1, 28. Mai: Heute geht es endlich los, 7 Tage werden wir mit Caritas International in Rabat, Marokko, verbringen und uns mit Caritas-Kollegen vor Ort austauschen. Schwerpunktthema ist die soziale Arbeit mit Migranten, vor allem mit unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen.

13 Kolleginnen und Kollegen aus Caritasverbänden in ganz Deutschland treffen sich am Frankfurter Flughafen. Der Plan ist, über Paris nach Rabat zu fliegen, wo wir gegen 22:30 Uhr eintreffen sollen.

Eine Reise mit Hindernissen: Zunächst muss ein Kollege in Frankfurt bleiben, er hat übersehen, dass sein Reisepass nicht mehr gültig ist und wird am Montag wieder zu uns stoßen.
Mit Verspätung sitzen wir in der kleinen Air France-Maschine, und sitzen, und sitzen, kurven mehrmals über die Startbahnen, bis unser Start schließlich eine Stunde verspätet frei gegeben ist.
Wir sind zuversichtlich: Unser Anschlussflug in Paris nach Rabat wird auf uns warten.
Am Flughafen angekommen hetzen wir durch die endlos langen Gänge zum Gate und – sehen unsere Maschine nur noch von hinten langsam wegrollen…

Es gibt keinen anderen Flug mehr am Abend nach Rabat, an unser Gepäck kommen wir auch nicht mehr. Aber die Rettung: Jeder von uns bekommt ein “Überlebenspäckchen” ausgehändigt, mit Zahnbürste, Rasierer (!), Duschgel und weißem T-Shirt zum Wechseln.
Die Nacht werden wir vermutlich in zwei verschiedenen Hotels am Flughafen verbringen, morgen früh geht es dann um 7:15 Uhr nach Casablanca und weiter mit dem Minibus über Land nach Rabat.

Aber noch ist unsere Organisatorin Christine Decker von caritas international am verhandeln. Mal sehen, was der Abend noch so bringt… Wir sehen es inzwischen jedenfalls alle gelassen und können dem Ganzen auch viel Komisches abgewinnen.

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Köln rechnet…..

Unsere Oberbürgermeisterin hat in der vorletzten Woche den Haushalt der Stadt Köln in den Rat eingebracht. Geplant ist ein Doppelhaushalt für die Jahre 2016 und 2017. Und immerhin und sensationell: dieser Haushalt ist „GENEHMIGUNGSFÄHIG“; also so geplant, dass die Kommunalaufsicht ihn auch genehmigen kann. Das ist für Köln eher eine Seltenheit.
Was dieser Haushaltsentwurf für das Jahr 2016 noch bewirken wird, ist mehr als fraglich. Letztlich und unter dem Strich wird die Weiterführung des Haushalts durch die Verwaltung im Nachhinein genehmigt, denn dieser Haushalt wird vielleicht im Sommer beschlossen, aber sicherlich nicht vor Oktober genehmigt werden. Haushaltsführung im Nachhinein!!!
Für das Jahr 2017 sieht die Sache immerhin anders aus. Weiterlesen

Modernes Teilhaberecht oder doch nur Sparmodell?

Seit letzter Woche liegt der lange angekündigte Referentenentwurf zum Bundesteilhabegesetz vor, der am 24.05. dann erstmals im Bundestag beraten wird.

Nach einem aufwändigen Beteiligungsverfahren über Partei- und Verbandsgrenzen hinaus, scheint wenig übrig geblieben zu sein, von den großen Ideen wie einem Teilhabegeld für alle Menschen mit Behinderungen, klaren Abgrenzungen zwischen unterschiedlichen Versorgungssystemen wie Eingliederungshilfe, Pflege, Jugendhilfe.

Sieht das Bundesministerium für Arbeit und Soziales in dem Gesetz viele Verbesserungen für die Lebenssituation von Menschen mit Behinderungen und die Weiterentwicklung der Eingliederungshilfe zu einem modernen Teilhaberecht, 

so sehe ich

  • dass Menschen mit Behinderungen zwar zukünftig ein bisschen Vermögen ansparen dürfen und mehr von ihrem Einkommen behalten dürfen, die Eingliederungshilfe aber trotzdem weiterhin eine nachrangige steuerfinanzierte Sozialhilfeleistung bleibt und kein echter konsequenter vermögensunabhängiger Nachteilsausgleich,

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Ignorieren oder argumentieren, ernst nehmen oder lachen

Außer durch die Flucht ins Freie hätte man sich am Wochenende kaum der Berichterstattung über den Parteitag der selbsternannten deutschen Alternative entziehen können. Zumindest die Medien kannten keine Alternative.

Nicht erst seit dem letzten Wochenende geht mir immer wieder durch den Kopf, was die richtige Strategie im Umgang mit dieser von Konservatismus bis Extremismus umspannenden Truppe ist. Und nach dem Wochenende befinde ich mich wieder mal mit meinen Gedanken zwischen Baum und Borke.

Mein eigenes politisches Verständnis sagt mir, dass eine inhaltliche Auseinandersetzung stattfinden muss. Nur so kann der Geist, der sich zunehmend materialisiert, entzaubert werden. Dies bringt einen oft schnell und aufgrund der Agitationsweise der in der Alternative Handelnden ins Hintertreffen. Statt Argumentieren erlebe ich oft, dass selbst gestandene Politiker, die sonst so Vieles und Gehaltvolles zu sagen haben, sich schwer tun und nur noch rechtfertigen. Sich zu rechtfertigen ist keine gute Alternative in einer Diskussion. Damit steht man bereits auf verlorenem Posten; bildhaft mit dem Rücken an der Wand. Wer hört da noch zu? Weiterlesen

Paris – Brüssel – Köln

Der Terror von IS und Salafisten kommt näher. Die Anschläge in Brüssel sind uns Kölnern näher als Hamburg oder Berlin. Gerade mal 200 Kilometer trennen uns vom Terror. Wann ist Deutschland betroffen ?

Schon lange sind wir alle in Europa Betroffene des Terrors. Sicherheitsvorkehrungen und Reisewarnungen an allen Ecken und Enden, wer mag denn heute noch eine Städtereise langfristig buchen? Und trotzdem, Deutschland ist weniger betroffen als andere Länder. Warum?
Weil Deutschland in der Vergangenheit Parallelgesellschaften wahrgenommen und bekämpft hat, weil wir nicht zulassen wollen, dass ganze Stadtteile sich dem Zugriff der Rechtstaatlichkeit entziehen, weil bei uns auch Minderheiten volle Rechte haben.

Es war und ist gesellschaftlicher Konsens in Deutschland, dass Integration die gemeinsame Aufgabe der Gesellschaft und der Zuwanderer ist. Dieser Konsens schützt unsere Gesellschaft bis heute. Umso wichtiger, diesen Konsens zu erhalten und zu verteidigen: vor Rechtspopulisten die auf Abgrenzung statt Integration bauen, vor Spar-Kommissaren und Kämmerern, die gesellschaftliche Investitionen in bedrohte Stadtteile einsparen wollen, vor Neoliberalen, die den Wohnungsmarkt Hedgefonds und Spekulanten überlassen wollen.

Nicht die Sicherheitspolitik, sondern die Sozial- und Wohnungsbaupolitik schützt uns und unsere Gesellschaft vor Islamistischem Terror. Integrierte Menschen tragen zur Entwicklung der Gesellschaft bei – ausgegrenzte Menschen werfen Bomben!

Jesus hat die Schnauze voll

Wie sagte Wilfried Schmickler am Samstag (26.03.) so schön bei den Mitternachtsspitzen? Jesus hat die Schnauze voll. Deshalb wird er dieses Jahr nicht auferstehen. Mit der „großen Jubelfeier anlässlich der Generalvergebung aller Schuld“ wird das dieses Jahr nichts. Die Erklärung, warum der „Hauptdarsteller der Osterinszenierung“ sich weigert, in diesem Jahr von den Toten aufzuerstehen und die Menschheit von ihren Sünden zu erlösen, findet sich laut Schmickler unter www.schnauzevoll.de. Denn, so Schmickler, wenn dieser Jesus heute die Tagesschau einschaltet, dann sieht er eine „nicht enden wollende Dokumentation seines Scheiterns“. Predigte Jesus seinerzeit Nächstenliebe, Mitleid, Barmherzigkeit, Gerechtigkeit und das Streben nach dem ewigen Frieden, so machen Politiker stattdessen heute „Hartherzigkeit und verweigerte Hilfeleistung zur Maxime ihres Handelns“. Ob im Schlamm von Idomeni oder in den Flüchtlingslagern im Libanon – hier sind die Predigten Jesu auf ganzer Linie gescheitert. Die „sogenannte westliche Welt, die vor Überfluss und Reichtum aus allen Nähten platzt, macht nicht die geringsten Anstrengungen, um Millionen Kriegsflüchtlinge wenigstens mit sauberem Wasser und ausreichend Nahrung zu versorgen (von medizinischer Versorgung ganz zu Schweigen)“. Stattdessen werden „Drohnen, Kampfjets, Panzer, Kanonen, Bomben und Granaten geliefert“. Die große Auferstehungsfeier fällt also aus. Denn „was ihr nicht getan habt einem meiner Geringsten, das habt ihr mir auch nicht getan“…

Worte, die auf bittere Weise deutlich machen, dass Christsein weit mehr bedeutet, als die Ostermesse zu zelebrieren. Damit „Leben und Liebe über Tod und Sünde siegen können“ (Papst Franziskus), müssen wir aufstehen und uns aktiv für eine friedliche Welt einsetzen.

Gastbeitrag von Christine Lieser, Koordinatorin für Flüchtlingsarbeit im kath. Stadtdekanat Köln, für die Aktion Neue Nachbarn

Triumph des „Abendlandes“ über den Verstand?

Nun triumphieren nach den Landtagswahlen am vergangenen Wochenende in Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg und Sachsen-Anhalt ausgerechnet die Kräfte, die sich in den Wochen und Monaten zuvor im Zusammenhang mit der Flüchtlingspolitik der Bundesregierung so große Sorgen um die Kultur des Abendlandes gemacht haben, es dabei bisweilen an Kultur vermissen ließen und nicht müde wurden, hilfsweise gar das bedrohte Vermächtnis des christlichen Abendlandes zu beschwören.

Was die Alternative zu den “etablierten” Parteien so an platten Parolen treibt, darüber gaben die Wahlkampfplakate deutlich Auskunft. Gut, ein Plakat ist eben kein Gesinnungsaufsatz von 20 Seiten; schon gar kein Grundsatzprogramm. Upps, das ist nicht nett. Schließlich wird gerade daran gearbeitet. Immer schön die richtige Reihenfolge einhalten: Erst Parolen, dann Grundsätze.

Vielmehr treibt mich um, dass Menschen, die vor einer pauschalen Kriminalisierung von Flüchtlingen im Zusammenhang mit der Verteidigung der Schließung der europäischen Grenzen, wie zunächst im Wahlkampf erfolgt und später zurecht überplakatiert, offensichtlich keinen Widerspruch darin empfinden, zugleich als selbsternannter Wächter des Abendlandes aufzutreten und sich als wehrhafter Hüter der freiheitlich-demokratischen Ordnung zu verstehen.

Stark vereinfacht, bezeichnet das Abendland den Raum des lateinischen Christentums und meint damit – mehr oder weniger in Abgrenzung zur islamischen bzw. asiatischen Welt – den westeuropäischen Raum. Doch wovor sollen wir geschützt werden? Unsere europäische Identität, wenn wir denn eine solche haben, speist sich auch aus orientalischen Quellen.

Das Bemühen des „Christlichen“ setzt der Absurdität die Krone auf. Meint das „Christliche“ doch Offenheit, Toleranz, Menschenwürde, Nächstenliebe, Gastfreundschaft und Solidarität. Bilder, die zu der Praxis von Verunglimpfung, Panikmache und Ressentiments nicht wirklich passen.