Freitag, 31. Mai. In den vergangenen Tagen waren wir in Tirana und im Norden Albaniens unterwegs. Heute brechen wir Richtung Süden auf. Wir fahren über die Autobahn nach Durres und biegen dort nach Südosten Richtung Elbasan ab. Unser erstes Ziel ist das Dörfchen Lumas. Hier haben sich Vinzentinerinnen aus Italien niedergelassen und ein Klösterchen gebaut. Schwester Camilla, die Oberin, ist gleichzeitig Direktorin der Caritas Süd-Albanien. Die Erziehung und Bildung der Kinder und Jugendlichen im flächenmäßig größten Bistum des Landes liegen ihr besonders am Herzen. Doch sie hat keinen leichten Stand.
Von den Behörden kann sie keine finanzielle Unterstützung erwarten. “Und der Bischof hat offensichtlich andere Sorgen”, weiß sie. Dennoch zeigt sich die energische Ordensfrau entschlossen, diesen Widerständen zu trotzen. Das Erdgeschoss des Ordenshauses hat sie an einen staatlichen Kindergarten vermietet und so zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen. Freiwillige Helferinnen, denen sie nicht einmal das Geld für ein Busticket geben könne, helfen Schwester Camilla und ihren Mitschwestern zwei Zentren für Kinder und Jugendliche in Gang zu halten. Die Schwestern verpflegen die Kinder, von denen viele zu Hause sonst nur eine Mahlzeit am Tag bekommen, sie helfen ihnen bei den Hausaufgaben und erteilen ihnen Religionsunterricht.
Schwester Camilla möchte das Angebot gerne erweitern. Dabei geht es ihr ebenso um die inhaltliche Arbeit wie um die völlig unzureichende Zahl der Kinder- und Jugendzentren im Bistum. Ihr Vorbild ist das Zentrum im 15 Kilometer entfernten Cerrik, das seit mehr als einem Jahr von der Caritas Albanien in Zusammenarbeit mit Caritas international und mit Geldern der Deutschen Bundesregierung auf- und ausgebaut wird.
Anders als Lumas, wo die Menschen ein bescheidenes aber sicheres Auskommen durch Landwirtschaft, Gemüse- und Obstanbau haben, ist Cerrik eine Stadt, die unter der kommunistischen Diktatur aus dem Boden gestampft wurde. Hier leben Arbeiter, die in einer Raffinerie und einem Hüttenwerk, beschäftigt waren. Die Familien stammen aus allen Landesteilen und gehören praktisch allen in Albanien vertretenen Ethnien an. Viele von ihnen waren nach Gefängnis oder Arbeitslager von dem kommunistischen Regime hierhin zwangsverpflichtet worden. Heute sind in Cerrik mehr als 50 Prozent der erwerbsfähigen Bevölkerung arbeitslos.
Das pädagogische Konzept des Kinder- und Jugendzentrums trägt den prekären sozialen und wirtschaftlichen Verhältnissen Rechnung. Ein siebenköpfiges Team, dem Sozialarbeiter(innen), Erzieher(innen) und je nach Bedarf auch ein Psychologe und ein Arzt angehören, steht den Kindern und Jugendlichen im Alter von sechs bis 16 Jahren zur Seite. Das Angebot des Zentrums reicht von Hausaufgabenhilfen, Freizeitaktivitäten, Kinobesuchen bis hin zu Gesprächs- und Diskussionsrunden.
Ein Modellprojekt ist es für Schwester Camilla aber vor allem wegen der Einbeziehung des sozialen Umfelds. Besonders die Begleitung und Aufklärung der Mütter hälte sie mindestens für ebenso wichtig wie die Erziehung und Bildung für die Kinder und Jugendlichen. “Die Frauen hier haben extrem viele Probleme”, weiß Schwester Camilla. “Es gibt viel Gewalt in den Familien oft in Verbindung mit Alkoholmissbrauch. Gesundheitsfragen sind in den Familien traditionell ein Tabuthema. Die Frauen werden damit allein gelassen. Deshalb organisiert das Zentrum in Cerrik regelmäßig Informationsabende und Gesprächskreise, zu denen auch Spezialisten und Experten eingeladen werden.”
Schwester Camillas erklärtes Ziel ist es, im Bistum Südalbanien möglichst schon im kommenden Jahr zehn Zentren für Kinder und Jugendliche nach dem Vorbild des Zentrums in Cerrik zu eröffnen. Sie hofft, dass es ihr gelingen wird, die notwendigen Gelder dafür aufzutreiben. Außerdem will Schwester Camilla die Missionszentren ihrer Ordensgemeinschaften weiter ausbauen. Bisher arbeiten hier nur Ordensschwestern und ein Priester, falls es einen vor Ort gibt. “Natürlich bleibt das wichtigste Ziel unserer Zentren die Seelsorge und Glaubensverkündigung”, erklärt Schwester Camilla. “Aber in Zukunft sollen sie noch sehr viel stärker als bisher Vorbilder für soziale Entwicklung sein.”
Nachmittags nehmen wir die kürzere Strecke zurück nach Tirana. Die alte, kurvenreiche Passstraße windet sich über den Gebirgszug, der den Norden vom Süden Albaniens trennt, und bietet uns den Blick auf eine bizarre und atemberaubend schöne Landschaft. Doch nicht mehr lange: Die Straßenbauer sind schon mit schwerem Gerät im Einsatz. Bald wird ein Tunnel Tirana und Elbasan verbinden. Dann dauert die Fahrt nur noch 30 Minuten statt knapp zwei Stunden. Und in Albanien beginnt wieder eine neue Zeitrechnung!
2. Juni 2013