Heute Morgen sind wir um 8.30 Uhr gestartet und haben kurz danach Tirana hinter uns gelassen. Unsere erste Station war die Kleinstadt Fushe-Krushe, etwa 30 Kilometer nördlich von Tirana. Hier hat die Caritas Österreich eine Tagesstätte für junge Menschen mit geistiger Behinderung aufgebaut.
Mehrere Dutzend Kinder und Erwachsene im Alter von 14 bis 32 Jahren werden hier auf vielfältige Weise gefördert. Ziel ist es, ihre individuellen Fähigkeiten zu entdecken und so zu fördern, dass sie sich entwickeln und ein wenig zu ihrem eigenen Lebensunterhalt beitragen können. Für die Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter, die hier tätig sind, ist klar, dass sie keine Verwahranstalt sind. Sie begegnen ihren Klienten auf Augenhöhe. Für den gehörlosen Lorik hat hier ein neues Leben begonnen. Er entdeckte seine Liebe zur Malerei und verkauft inzwischen seine Bilder. Als der Vater zum ersten Mal die Bilder seines Sohnes sah, war er tief gerührt, dass in dem Jungen, der sich nur mit Gesten verständlich machen kann, ein so großes Talent steckt.
Auch in Fragen der Inklusion von Menschen mit Behinderung geht die Caritas Albanien neue Wege. In der staatlichen Grund- und Hauptschule im Nachbarstädtchen Lac gibt es seit einigen Jahren eine Klasse für Kinder mit besonderen Bedürfnissen. Zurzeit ist hier Platz für zwölf Schülerinnen und Schüler. Das eigentliche Ziel ist, sie so zu fördern, dass sie in die Regelklassen integriert werden können. Auch wenn die Lehrerinnen bedauernd zugeben, dass dies ein sehr hoch gestecktes und in den meisten Fällen unerreichbares Ziel ist. Die Ausstattung des Raumes, die Weiterbildung für die Lehrkräfte sowie Lehr- und Lernmittel hat die Caritas Albanien mit Hilfe von ausländischen Caritas-Organisationen finanziert. Der Schulrektor ist stolz, dass seine Schule dieses Angebot machen kann, auch wenn der Bedarf in der 30.000 Einwohner zählenden Stadt Lac viel größer wäre. Benötigt würden Plätze für 1.200 Schülerinnen und Schüler mit besonderen Bedürfnissen. Aber ein Anfang ist immerhin gemacht!
Einen Anfang gemacht hat auch eine kleine Gruppe älterer Männer in Tirana, die sich zu einer Selbsthilfe-Initiative zusammen geschlossen hat, um für die Rechte älterer Menschen in Albanien zu kämpfen. Die wirtschaftliche Lage älterer Menschen ist prekär. Ihre Rente beträgt heute maximal ein Drittel ihres vorherigen Monatsgehaltes. Nach Abzug der Kosten für Strom, Wasser, medizinische Versorgung und öffentliche Verkehrsmittel bleibt einem Rentner, der in einer Stadt wie Tirana lebt, kein Geld mehr übrig für Lebensmittel, Miete und sonstige Dinge des täglichen Bedarfs. Bis zum Ausbruch der Wirtschaftskrise in den meisten EU-Ländern konnten die Rentner in Albanien dank der Unterstützung ihrer im Ausland arbeitenden Kinder und Enkel überleben. Kondi Ilia, ein junger Jurist, der für die Caritas Albanien die älteren Herren berät und sich politisch für die Rechte älterer Menschen engagiert, bringt es auf den Punkt, als er sagt: “Man glaubt es nicht, aber bei uns gibt es immer noch Leute, die den Tag feiern, an dem sie in Rente gehen! Sie haben noch nicht verstanden, was auf sie zukommt! Wenn unser Regierungschef in Rente geht, sieht er nicht der nackten Armut ins Auge!” Und Dr. Lulzim Mullahi, Allgemeinmediziner im aktiven Ruhestand, pflichtet ihm bei: “Unsere Politiker versprechen den Leuten Brücken zu bauen in Dörfern, in denen es gar keinen Fluss gibt. Und unsere Leute glauben ihnen, und nicht nur das, sie glauben ihnen sogar, dass sie diese Brücke wirklich brauchen!”
Unterstützt durch die deutsche Caritas hat die Caritas Albanien ein Modellprojekt für häusliche Krankenpflege ins Leben gerufen. Mit politischem und sozialem Engagement versuchen die Caritas und die streitbaren alten Herren auf die Lage älterer Menschen aufmerksam zu machen und fordern menschenwürdige Lebensbedingungen für sie ein.
Die streitbaren alten Herren beeindrucken und faszinieren uns sehr. Gerne hätten wir uns noch länger mit ihnen unterhalten. Am Ende unseres zweiten Tages in Albanien fühlen wir uns ziemlich überwältigt von der Flut der vielen Eindrücke. Die Zeit ist viel zu kurz, auch für ausführlichere Gespräche mit den Caritas-Kolleginnen und Kollegen, die uns begleiten und denen wir unterwegs begegnen. Damit wir morgen Vormittag mehr Zeit mit den Kolleginnen in der Hauskrankenpflege verbringen können, werden wir zwei Programmpunkte streichen…
Gastbeitrag von Christine Decker vom 28.05.2013 , caritas international