Der letzte Tag der Projektreise startet mit einer Planänderung. Statt des geplanten Besuchs in einem Frauenhaus für Überlebende von Gewalt gegen Frauen der Caritas in Bhersaf im Norden Libanons geht es in ein Caritas-Zentrum für Flüchtlinge am Rande eines ursprünglich von palästinensischen Christen bewohnten Lagers in Dbayeh unweit Beiruts. Bei dem Lager handelt es sich größten Teils um befestigte Häuser, die vermietet werden. Hier leben schätzungsweise 500 christliche palästinensische, 85 bis 100 muslimische syrische und rund 100 libanesische Familien. Genaue Zahlen gibt es nicht. Es ist ein ständiges Kommen und Gehen. Die Rotation der Familien ergibt sich zum Teil aufgrund von Konflikten untereinander.
Das Zentrum der libanesischen Caritas wurde 2000 mit Hilfe von Caritas international gegründet. Vormittags treffen sich hier die Frauen. Sie werden in ihren Kompetenzen befähigt, damit sie eine Perspektive haben, wenn sie in ihre Heimat zurückkehren. Die Frauen sind zwischen 15 und 60 Jahre und älter. Viele minderjährige syrische Frauen sind bereits verheiratet und haben Kinder. Die Frauen lernen französisch und englisch und werden in Handarbeit, Computer oder im Friseur- und Kosmetikhandwerk ausgebildet. Zudem finden Ernährungsberatung und Alphabetisierungskurse statt.
Nachmittags gehört das Zentrum den Kindern. Sie werden schulisch gebildet und erhalten Hausaufgabenbetreuung in französisch, englisch sowie allen Schulfächern. Wie schon in der Schule für hörgeschädigte, geistig- und lernbehinderte Kinder in Zahleh werden auch in diesem Zentrum regelmäßig Tests durchgeführt, um den Lernfortschritt der Kinder festzustellen und ihren individuellen Lehrplan anzupassen. Im Gegensatz zu den Müttern, die zum Teil unter posttraumatischen Belastungsstörungen leiden, psychosoziale Betreuung erhalten sowie in Einzel- oder Gruppentherapie psychologisch unterstützt werden, sagt uns die Psychologin, dass die Kinder weniger traumatisiert sind. Die meisten von ihnen sind im Libanon geboren und erwecken den Eindruck aufgeschlossener und glücklicher Kinder.
Da Freitag ist, sind nur die muslimischen syrischen Kinder da. Ansonsten trifft man hier täglich 60 bis 70 Kinder an. Auch hier sind etwa 50 Prozent Syrier(innen) und jeweils 25 Prozent Libanes(inn)en und Palästinenser(innen). Auch die Anteile der Frauen verteilen sich ähnlich. Während unseres Besuches stößt Schwester Magda hinzu. Sie gehört einer religiösen Glaubensgemeinschaft an und ist seit 1987 vor Ort. Sie kennt alle Familien im Lager. Sie ist Krankenschwester und geht einmal die Woche in alle Häuser. Ihre Glaubensgemeinschaft unterhält ein kleines Krankenhaus unweit des Lagers. In diesem behandeln libanesische Ärzt(inn)e(n) ehrenamtlich und kostenlos die Familien. Für unseren Besuch haben sich die Erzieher(innen) mit den Kindern etwas Besonderes überlegt. Im Tandem mit einem Kind pflanzen wir Blumensamen ein und beschriften die Pflanztöpfchen mit unseren Namen. Mein „Kind“ ist Fatima.
Mittags geht es in den Norden Libanons nach Reyfoun ins Libanon-Gebirge. Hier besuchen wir ein Caritas-Gemeindezentrum mit einer Notunterkunft für Frauen und ihre Kinder. Im Norden des Libanon gibt es zwei Flüchtlingslager. Im Caritas-Haus können 100 Frauen und ihre Kinder einen sicheren Platz finden. Die Frauen kommen aus dem Irak, Syrien, Afrika und Asien. Aktuell sind 73 Menschen hier; fünf Prozent sind Arbeitsmigrantinnen, die als Hausangestellte in den Libanon und in Schwierigkeiten mit ihren Arbeitgebern kamen; bei den anderen 95 Prozent handelt es sich um geflüchtete Frauen und ihre Kinder. Einige von ihnen waren zuvor in der Beiruter Abschiebehaftanstalt. Andere Frauen kommen über eine Telefon-Hotline oder über Vermittlung durch andere Caritas-Zentren, die UNHCR, Anwält(inn)e(n), Polizei oder Botschaften.
Die Frauen haben alle Gewalterfahrungen. Im Zentrum arbeiten acht festangestellte Mitarbeitende (Sozialarbeiter(innen), Lehrer(innen), Erzieher(innen), Anwält(inn)e(n) und Psycholog(inn)en). Bei den Dienstleistungen handelt es sich um humanitäre, psychosoziale und psychische Hilfe sowie ein Dach über dem Kopf. Aufgrund der hohen Quote an Frauen, die sich unter den Flüchtlingen und Arbeitsmigrant(innen) befinden und da psychiatrische Behandlungen und Medikamente in Libanon sehr teuer sind und das Haus renovierungsbedürftig ist, braucht die Caritas Libanon Unterstützung in dieser wichtigen Aufgabe, wie uns die Leiterin des Gemeindezentrums erzählt. Abgerundet wird das Angebot der Caritas für die Frauen durch Freizeit-Aktivitäten sowie der Möglichkeit, während ihres Aufenthalts etwas für sich zu tun und mitzunehmen, wie etwa einen Computerkurs. Nehmen die Frauen zu 80 Prozent teil, erhalten sie in Kooperation mit einer von Schwestern geleiteten Schule vor Ort ein Zertifikat. Unter den Bewohner(inne)n befinden sich 40 bis 45 Kinder. Sie gehen in zwei Schichten zur Schule. Demzufolge bietet das Caritas-Zentrum vormittags und nachmittags Hausaufgabenhilfe an.
Wir haben im Zentrum Gelegenheit zu Gesprächen mit Sozialarbeiter(innen) und Betroffenen. So erfahren wir, dass manche von den Frauen seit vier Jahren in der Notunterkunft leben. Andere bleiben ein bis zwei Wochen. Keine von ihnen geht, ohne in Sicherheit zu sein. Die Frauen sind zwischen 18 und 85 Jahre alt. Wir erfahren die Geschichte einer syrischen Flüchtlingsfrau, die Gewalt durch ihren Ehemann erfahren hat. Sie erzählt uns, dass das Zusammenleben mit ihrem Mann schwieriger wurde, nachdem dieser sich eine zweite Ehefrau nahm und diese schwanger wurde. Shams (Name geändert) wusste und kannte nicht, dass jemand wie die Caritas ihr helfen würde. Sie wurde auf die Caritas aufmerksam, als sie sich mit ihrem mit Ehemann und den drei gemeinsamen Kindern bei der UNHCR als Flüchtlinge registrieren lassen wollte. Sie wurde dort in einem Einzelgespräch auf sichtbare Gewaltspuren angesprochen; ging jedoch mit ihrem Mann wieder. Auch ihre Kinder wurden regelmäßig vom Vater geschlagen. Nach dem Besuch bei der UNHCR wurde die Situation für Shams und ihren älteren Sohn, der sich schützend vor seine Mutter stellte, lebensbedrohlich. Ihr Mann versuchte sie schließlich mit einem Messer zu töten. Befragt nach ihrer Perspektive, gibt sie an, nicht nach Syrien zurückkehren zu können. Von ihren dort nach wie vor lebenden Eltern kann sie keine Hilfe erwarten. Sie wollen Shams ebenfalls töten, weil ihr Mann ihnen erzählt hat, dass sie weggelaufen ist. Ihre Schwester hat ähnliche Gewalterfahrungen mit ihrem Mann gemacht. Shams will mit ihren Kindern nicht in Libanon bleiben. Die Frage, wohin sie gehen möchte, kann sie nicht beantwortet. Das will sie mit der UNHCR beraten. Ihr Mann will sie nicht zurück, aber die Kinder. In der Zwischenzeit läuft das Scheidungsverfahren. Sie kämpft um ihre Kinder und hat gute Aussichten, wie uns eine Sozialarbeiterin sagt. Shams wird von der Caritas rechtlich beraten und vor Gericht vertreten.
Die Einrichtung und Mitarbeitenden bekommen von gewalttätigen Ehemännern viele Drohungen. Die Leiterin des Schutzhauses war von 2000 bis 2006 in der Abschiebehaft in Beirut. Sie und ihre Kolleg(innen) waren beteiligt am Auffliegen eines Menschenhändlerrings, in den auch hochrangige libanesische Politiker verstrickt waren. Ein großer Skandal, wie uns unsere Dolmetscherin am Rande bestätigt. Der Menschenhändlerring zwang syrische Mädchen zur Prostitution und verkauft diese. Die Leiterin und ihre Kolleg)inn)en kümmerten sich um die Mädchen und trugen dazu bei, dass sie vor der Polizei aussagten. Eine zur Prostitution gezwungene 20-Jährige sagte aus, in zwei Jahren 13 Abtreibungen gehabt zu haben. Die Mädchen standen unter Lebensgefahr. Mit Hilfe der libanesischen Caritas und UN-Behörden konnten sie schließlich außer Landes gebracht werden.