Not schweißt bekanntlich zusammen; lässt die Menschen enger rücken. Doch gibt es Grenzen in der Not? Mein Weg zum Büro führt mich am Ehrenfelder Bahnhof vorbei. Dort wurde ich vor wenigen Tagen Zeugin folgenden Vorgangs.
Am Aufgang zu den S-Bahn-Gleisen direkt am Fuß des Fahrkartenautomaten sitzt tagein tagaus ein wohnungsloser Mann. Über die Zeit kennt man sich. Nicht vom Namen, aber vom Sehen her. Er ist im täglichen Anblick so etwas wie ein fester Bestandteil des Umfelds; keineswegs unsichtbar. Man nimmt ihn wahr: immer freundlich, nie aufdringlich. Seine Miene strahlt Offenheit und Zufriedenheit aus. Er vermittelt den Eindruck, als ginge es ihm gut, als hätte er alles, was er braucht. Für manchen, der ihn dort sitzen sieht, wahrscheinlich undenkbar angesichts der Lebensumstände. Die Passanten freuen sich ihn zu sehen. Viele bleiben auf einen kurzen Plausch stehen. Er bekommt immer etwas geschenkt, selbst wenn sein Platz vorübergehend leer ist: Konserven, belegte Brötchen, ein Becher Kaffee, ein Apfel oder eine kleine Topfpflanze. Im Winter grüßt ihn auch schon mal ein Schokoladen-Mann.
Vor wenigen Tagen kam ich mittags am Ehrenfelder Bahnhof vorbei. Automatisch ging mein Blick in die Ecke des Fahrkartenautomaten und dort saß jemand anderes. Auch dieser jemand ist mir der Ansicht nach bekannt. Es ist ein Bulgare oder Rumäne, der seit dem vergangenen Jahr an und um den Ehrenfelder Bahnhof Obdachlosen-Zeitungen verkauft. Auch wenn er sich nur mit wenigen Brocken sprachlich verständlich machen kann, hat er immer ein Lächeln im Gesicht, ist höflich und zurückhaltend. Eben dieser Mann saß dort, wo ich aus Gewohnheit eigentlich jemanden ganz anderen erwartet habe.
Darauf ertönt schon gleich ein empörter Ruf. „Weg da! Das ist mein Platz! Verschwinde!“ Der so Angerufene rafft sich auf und räumt das Feld. Mit einem sichtlich zufriedenen Ausdruck im Gesicht lässt sich der Wohnungslose auf seinem Stammplatz nieder. Die Welt scheint wieder in Ordnung zu sein.
Der Vorgang an sich ist mit Sicherheit eine Petitesse; nichts den Weltlauf Veränderndes. Er beschäftigt mich dennoch. Psychologen oder Verhaltensforscher werden mit Sicherheit eine ganz logische Antwort für diese Situation haben. Ich nicht. Ich weiß bis heute nicht, was ich davon halten soll. Ist die Situation verständlich oder befremdlich? Schweißt Not nicht zusammen? Gibt es Grenzen in der Not? Sollte es nicht eine stillschweigende Solidarität unter Menschen in Not geben? Kann sich Solidarität nur leisten, wer finanziell und sozial besser gestellt ist?