Ein Kommentar unserer Kollegin Svenja Mattes, Leitung Fachdienst für Integration und Migration
Seit der Machtübernahme der Taliban im August 2021 sind viele Menschen in Afghanistan bedroht und verfolgt und fürchten um ihr Leben. Über ein Jahr danach veröffentlichte die Bundesregierung über das Auswärtige Amt und das BMI endlich am 17.10.2022 ein neues Aufnahmeprogramm. Das Programm wurde im Koalitionsvertrag bereits angekündigt und viele Menschen, die es bisher noch nicht geschafft hatten, Afghanistan zu verlassen bzw. Angehörige dort haben, um die sie sich sorgen, haben große Hoffnungen in das Aufnahmeprogramm gesetzt.
Dieses soll, ergänzend zu der Aufnahme von ehemaligen Ortskräften, all denjenigen eine Chance auf Aufenthalt in Deutschland bieten, die seit der Machtübernahme der Taliban aufgrund individueller Umstände besonders gefährdet sind. Der Theorie nach fallen darunter zum einen Personen, die entweder durch ihren Einsatz für Frauen- und Menschenrechte oder aber wegen einer Tätigkeit in verschiedenen politischen/ gesellschaftlichen Feldern besonders exponiert sind. Zum anderen sollen aber auch Menschen, die aufgrund ihres Geschlechts, Geschlechtsidentität, sexueller Orientierung oder Religion besonders benachteiligt oder verfolgt sind, am Aufnahmeprogramm teilnehmen können.
Die glaubhafte Darlegung einer obengenannten Gefährdung ist in der Praxis extrem schwierig zu erbringen. Wer hat schon einen schriftlichen Beweis über eine individuelle Bedrohung vorliegen? Dazu kommt, dass Programmteilnehmer sich zum Zeitpunkt ihrer Registrierung in Afghanistan befinden müssen (also bisher nicht in umliegende Länder geflüchtet sein dürfen). Die praktische Umsetzung würde jedoch auch verlangen, dass Betroffene nach einer eventuellen Zusage im Programm auf eigene Verantwortung und Gefahr hin das Land verlassen müssten. Diese Schwierigkeiten in der Umsetzung werden sicher nicht dazu führen, dass alle schutzbedürftigen Menschen auch über das Programm berücksichtigt werden können.
Der „Start“ des Aufnahmeprogramms erfolgte pressewirksam und die Information erreichte auch viele Betroffene, die sich seitdem in ihrer Verzweiflung an verschiedene Beratungsstellen wenden, um ihre Verwandten/ Freunde/ Bekannten über das Programm nach Deutschland zu holen. Jedoch beinhaltete diese Ankündigung nicht, dass gleichzeitig ein Verfahren auf den Weg gebracht wurde, um in Frage kommende Fälle zu melden. Die offizielle Website zum Programm verweist auf die sog. zivilgesellschaftlichen, „meldeberechtigten Stellen“, welche für die Entgegennahme von Anfragen durch Ratsuchende zuständig sein und diese entsprechend an eine vom Bund finanzierte Koordinierungsstelle weiterleiten sollen, damit anschließend geprüft werden kann, ob ein Fall für das Aufnahmeprogramm in Frage kommt. Eine direkte Kontaktaufnahme durch afghanische Ratsuchende ist nicht vorgesehen. So die Theorie.
Hierin liegt genau die Krux: Derzeit gibt es in Deutschland nicht ausreichend Stellen, bei denen die Fälle angemeldet werden könnten. Das liegt einerseits an dem organisatorischen Aufwand, der mit der Einrichtung dieser Stelle einhergeht – laut offiziellen Angaben dauert es bis zu einem Arbeitstag, um einen einzigen Fall in das System einzutragen. Andererseits besteht keine finanzielle Förderung dieser aufwendigen Arbeit, welche es Beratungsstellen ermöglicht, als meldeberechtigte Stelle tätig zu werden. Seitens des Bundes ist weder eine Ressource zur Umsetzung dieser Arbeit vorgesehen, noch ist es erlaubt, diese Arbeit über die laufenden bundesgeförderten Programme der Integrationsarbeit umzusetzen. Auch andere (europäische, landes-, oder kommunalfinanzierte) Programme können nur mit jeweiliger Zustimmung der Kostenträger eingesetzt werden, was in jedem Fall aber eine Überlagerung der jeweiligen Programminhalte und eine damit verbundene Verdrängung anderer Zielgruppen nach sich ziehen würde. Auch aus Eigenmitteln ist es den Trägern unmöglich, ein Angebot zur Bewältigung des Programmes zu finanzieren.
Dies ist auch der Grund, dass in Köln bis zum heutigen Tag keine offiziell meldeberechtigte Stelle besteht, an welche die Betroffenen verwiesen werden können. Konsequenz ist, dass die Menschen weiter warten, hoffen und verzweifeln und die Mitarbeitenden in den Beratungsstellen weiter nur beruhigen und nicht weiterhelfen können. Betrachtet man dies mit der öffentlichkeitswirksamen Ankündigung im Oktober, das Programm würde nun starten, ist das fast zynisch. Am Schwebezustand der Betroffenen hat sich bisher nichts geändert.
Ob und wie viele Menschen von den im Programm zugesagten 1000 Personen pro Monat bisher nach Deutschland kommen konnten, ist nicht bekannt. Ende Dezember lag die Zahl noch bei null. Ein Aufnahmeprogramm, über das aber niemand aufgenommen wird? – Die praktischen Schwierigkeiten bei der Umsetzung und die organisatorischen Hindernisse sind hausgemacht und zeigen, wie so oft, dass politische Ankündigungen in den Medien und die Realität der Betroffenen weit auseinanderklaffen…