Gastbeitrag von Johanna Boos/Pädagogische Fachkraft zur Beratung in der Gesundheitsversorgung (Neu-)Eingewanderter in der Clearingstelle Migration und Gesundheit
Das GKV-Versichertenentlastungsgesetz schafft neue Zugangsbarrieren für EU-Zugewanderte ins deutsche Krankenversicherungssystem
Am 01.01.2019 ist das GKV-Versichertenentlastungsgesetz (GKV-VEG) der Bundesregierung in Kraft getreten. Zum Teil wird das Versichertenentlastungsgesetz seinem Namen gerecht und bringt, was es verspricht: eine (finanzielle) Entlastung für gesetzlich Versicherte in Deutschland. In Zahlen gesprochen betrifft dies Bundesgesundheitsminister Jens Spahn zufolge 56 Millionen Krankenkassenmitglieder deutschlandweit. Spahn, der das GKV-VEG in die Wege geleitet hat, berechnet hiermit eine Summe, die offenbar auch der Öffentlichkeit imponiert: Die Berichte zum neuen Gesetz ergehen sich in einer Reihe von Aufzählungen der positiven Konsequenzen. Außer Acht gelassen wird dabei, dass mit dem GKV-VEG bestimmten Personengruppen der Verlust ihres Krankenversicherungsschutzes droht.
Die positiven Effekte des GKV-VEG lassen sich in Kürze zusammenfassen: Die Obergrenze von Finanzreserven werden gesenkt und damit auch die maximalen Zusatzbeiträge für Versicherte. Die Beiträge werden künftig wieder zu gleichen Anteilen von Arbeitnehmenden und Arbeitgebenden bzw. Berenteten und Rentenversicherungen gezahlt, wodurch die von den Versicherten zu zahlende Beitragshöhe sinkt. Auch Selbständige mit geringem Einkommen werden entlastet durch ein deutliches Absenken des monatlichen Mindestbeitrags. Zudem sollen Beitragsschulden abgebaut werden, indem die 2013 eingeführte obligatorische Anschlussversicherung eingeschränkt wird. Mit diesem, in Politik und Öffentlichkeit als positiv hervorgehobenem Aspekt der Beitragsschuldenreduzierung entpuppt sich das sogenannte Versichertenentlastungsgesetz für einen Teil der Versicherten als Wolf im Schafspelz: „Ungeklärte passive“ Mitglieder dürfen künftig aus dem Versicherungsverhältnis entlassen werden.
Was aber sind „ungeklärte passive“ Mitglieder und welche konkreten Folgen hat das GKV-VEG für sie? Dem Gesetz zufolge handelt es sich hierbei um Mitglieder, deren Wohnsitz oder gewöhnlicher Aufenthalt nicht ermittelbar ist. In diesem Fall sei von einem Verzug ins Ausland auszugehen, wonach kein Versicherungsanspruch für die betroffene Person bestehe.
Im Fachdienst für Integration und Migration begegnen wir in der Clearingstelle Migration und Gesundheit jeden Tag sogenannten „ungeklärten passiven“ Mitgliedern. Sie stellen einen beachtlichen Teil unserer Klientel, die die Beratung für Zugewanderte mit ungeklärtem Krankenversicherungsschutz aufsucht. Der polnische Hilfsarbeiter, der erst seine Arbeit, dann seine Wohnung verliert und keine Sozialleistungsansprüche geltend machen kann, denkt im ersten Moment nicht daran, seiner Krankenkasse seine neue Adresse mitzuteilen: Ohne festen Wohnsitz. Sein gewöhnlicher Aufenthalt ist immer noch in Deutschland. Selbst wenn er ins Ausland verziehen wollte – ihm fehlte das nötige Geld.
Das Leben auf der Straße fordert seinen Tribut: Häufig werden Krankenhausversorgungen aufgrund akuter Verletzungen oder Erkrankungen notwendig. Bisher wurden Menschen in Krisensituationen durch die obligatorische Anschlussversicherung aufgefangen. Im Fall von Beitragsschulden wurden ihre Leistungsansprüche lediglich ruhend gestellt, Notfallversorgungen wurden dennoch gezahlt. Die Gesetzesänderung hat somit gravierende Folgen: Menschen ohne Sozialleistungsanspruch, die von Arbeits- und Wohnungslosigkeit betroffen sind und die die Versicherungsbeiträge nicht aufbringen können, droht künftig der Verlust ihres Krankenversicherungsschutzes. Während für deutsche Bürger*innen Versicherungspflicht besteht und sie somit eine Krankenversicherung auch nach Ausschluss aus einem Mitgliedschaftsverhältnis wieder aufnehmen können, werden EU-Zugewanderte von dieser Versicherungspflicht nicht erfasst. Für einen Großteil von ihnen bietet Erwerbstätigkeit den einzigen Weg in das Krankenversicherungssystem. Doch schwierige Lebensbedingungen und geringer Kündigungsschutz führen häufig zu einem Verlust der Arbeitsstelle. Bisher hatte dies keinen Verlust des einmal hergestellten Krankenversicherungsschutzes zur Folge. Sollten die Krankenkassen jedoch die Einschränkungen der obligatorischen Anschlussversicherung durchführen, wird sich dies für viele EU-Zugewanderte ändern. In Fällen der Familienversicherung könnte das neue Ausschlussprinzip zu einem Verlust von Krankenversicherungen gleich mehrerer Personen führen, auch von minderjährigen Kindern.
Mit dem GKV-VEG ist im Jahr 2019 ein Anstieg von nicht krankenversicherten Personen in Deutschland zu erwarten. Personengruppen, die sich ohnehin bereits in schwierigen Lebensverhältnissen befinden und gerade deshalb auf eine gesicherte Krankenversorgung angewiesen sind, werden mit diesem Gesetz noch weiter an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Es bleibt kritisch zu beobachten, wie sich die Durchführungen des GKV-Spitzenverbandes konkret gestalten werden.